Fünfzehn Jahre nach 9/11: Was einen SPIEGEL-Journalisten trauern lässt

»Fünfzehn Jahre nach den Anschlägen in New York ist der Terrorismus Alltag und das Gedenken Routine«, so vermeldet Marc Pitzke auf SPIEGEL ONLINE, und echauffiert sich darüber, dass im »wiederauferstandenen« World Trade Center (Adjektiv und Anführungszeichen stammen von ihm selbst) gerade ein neues Shopping-Center eröffnet wurde.

Fünfzehn Jahre nach den Anschlägen auf New York und den Westen aber – das wäre der triftigere Befund – ist hierzulande antiamerikanisches Ressentiment Alltag und augsteinscher Antikapitalismus Routine. Verstand sich DER SPIEGEL seit je als Sturmgeschütz in dieser Frontstellung, so darf zum Jahrestag der Pitzke den Wachtmeister der Artillerie mimen.

Darum auch lamentiert er: »Nicht die Terroristen haben gesiegt. Das Geld hat gesiegt. Der Kapitalismus, den sie im Herzen treffen wollten, ist nun viel stärker, als er vor fünfzehn Jahren (war)…«, und unabhängig davon, ob dem überhaupt so sei, wird doch auch im SPIEGEL immer wieder die Krise des Kapitalismus konstatiert, wird über den angeblichen Sieg des Kapitalismus über den zinsfreien Islamismus laut gegreint. Dieser konformistische Antikapitalismus, dessen Wesenskern die Projektion allen Übels auf die USA war und ist, der in der Bundesrepublik von Augsteinsenior zu Augsteinjunior tradiert wurde und auch nach Grass die Grassdeutschen eint, muss sich verbal nicht maskieren:

Das Shopping-Center wird bei Pitzke als Luxus-Shopping-Center deklariert, weil Luxus verpönt zu sein hat; und auf der anderen Seite des Schützengrabens stehen Apple, Starbucks, H&M »und Konsorten«. Das One World Trade Center wird bei ihm zum »Superturm«, »pompös Freedom Tower genannt«, der aber doch nur ein »konventioneller Klotz« sei, ein »Monstrum«. Wer so redet oder schreibt, hat nichts dagegen, wenn ein solches »Monstrum« auch wieder verschwindet – by any means necessary.

Wiglaf Droste hatte schon Ende 2001 den Angriff vom 11. September (in Anlehnung an Peter Hacks) als »fliegende Architekturkritik« bezeichnet, »erfreulich« fand er, wenn eine »fette Abrissbirne« dort stört, wo man sonst »den Profit vermehrt«. Fünfzehn Jahre später können es Leute wie Pitzke nicht verwinden, dass es in New York tatsächlich wieder so etwas wie kapitalistische Normalität gibt: es wird gearbeitet und geshoppt, es wird Profit gemacht und auch Verlust. Der Kapitalismus hat sich noch nicht in die Knie zwingen lassen. Das ist, betrachtet man die real angebotenen Alternativen, eine gute Nachricht.

Pitzke aber sieht das anders und spielt die eigene deutsche Trauerleidenschaft gegen den angeblichen US-Konsumismus aus: »Statt zu trauern gehen die Amerikaner am 9/11-Jahrestag lieber… shoppen« (die dramaturgischen Punkte im Original). Den Amerikanern als den Angegriffenen, als den Opfern eines islamistischen Massmordes vorzuwerfen, sie würden nicht recht trauern, ist von einem deutschen Enkel der NS-Tätergeneration ein recht eitles Unterfangen. Doch solche Enkel rühmen sich ja ihrer Trauerexpertise: sie trauern nicht nur um Opa vor Stalingrad und Oma in Schlesien, Dresden oder auf der Gustloff. Sie trauern auch – weil gut in Übung und gut fürs Gewissen – um die Opfer der originär deutschen Mordtaten. Und sie bauen statt stahlgläsernen Wolkenkratzern nebst Shopping-Centern lieber riesige Mahnmäler wie Grabmäler, um die sie die Welt dann zu beneiden hat.

Heute, am 11. September, haben in Deutschland die Shopping-Center geschlossen. Das aber ist mitnichten ein Akt des Gedenkens. Das ist nur ein ganz normaler deutscher Sonntag.

Boykott den Boykotteuren

Basisbanalitäten zur Kritik des Antisemitismus werden durch Wiederholung nicht falsch. Sie gehören aber dorthin, wo sie nicht gern gehört werden.

Kommentar in der Jungle World Nr. 9, 3. März 2016

Nein, Israel ist kein Apartheidstaat und auch kein Kolonialregime. Ja, die BDS-Kampagne (Boycott, Divestment and Sanctions) gegen Israel ist die zeitgenössische Version der Forderung: »Kauft nicht bei Juden!« Nein, Zionisten sind keine kriegstreiberischen Kindermörder. Und ja, »Freiheit für Palästina« bedeutet: »Treibt die Juden ins Meer!« Nein, die liberale Haltung der israelischen Gesellschaft gegenüber LGBTI ist kein perfides »Pinkwashing«. Und ja, hinter all dem zerebralen Irrsal steckt die Erbärmlichkeit des Antisemitismus. Nein, es gibt kein Verbot dieser »Israel-Kritik«. Und ja, das ist schade.

Warum? Das sollte dort, wo politische Vernunft wenigstens im Mindestmaß vorhanden ist, keiner Begründung mehr bedürfen. Wer das alles noch immer nicht weiß, der will es nicht wissen. Alle Argumente sind hinreichend elaboriert. Sie hier zu wiederholen, bedeutete also selbstgefällige Unwirksamkeit, wo es doch um gefährliche Wirksamkeit geht: Die BDS-Kampagne hat in der Europäischen Union mit der Kennzeichnungspflicht für israelische Waren aus den umstrittenen Gebieten einen veritablen Etappensieg erzielt. Überhaupt haben derlei Kampagnen längst den Mainstream erreicht. Nur ein Beispiel: Bayreuth will demnächst seinen Preis »für Toleranz und Humanität in kultureller Vielfalt« an »Code Pink« verleihen, einen amerikanischen Verein von Pazifistinnen und Pazifisten, die über ihre Ranküne gegen die USA und Israel auch gern mit Holocaust-Leugnern im Iran parlieren, wie zuletzt Anfang 2015.

Die Minnesänger der »Israeli Apartheid Week 2016« touren derweil unter dem Titel »Our Struggles Unite« durch Deutschland. Und das Motto stimmt: Wie das Klebereiweiß im Weizen die Nudeln schön bissfest zusammenhält, so sind der Antisemitismus, pardon, die »Israel-Kritik«, und die Sehnsucht nach Entjudung, pardon, nach »Entzionisierung«, der Kitt linker und alternativer Milieus. Hier ist man sich einig.

Diesem Palästina-Aktivismus gibt der postmoderne Alles-Egalismus den Raum frei: Feierte gerade erst im Berliner Kino Moviemento die Dokumentation »Triumph des guten Willens« über Eike Geisel Premiere, so steht dort an diesem Freitag ein antiisraelisches Propagandastück auf dem Programm, »Even Though My Land is Burning«, präsentiert von BDS Berlin und FOR (For One State and Return in Palestine – frei übersetzt: Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer). Der Filmemacher Dror Dayan ist selbst Israeli, das nennt man Win-win-Situation: Der Antisemitismus bekommt den Koscher-Stempel und der Jude seine Absolution. Er hat den Antizionismus als Assimilationsangebot angenommen.

Die Kinobetreiber dürften sich nicht genötigt fühlen, mit einer solchen Veranstaltung Wiedergutmachung am eigenen Publikum für den Film über Eike Geisel zu leisten. Man lässt nur einen weiteren »wichtigen« Film laufen, über den im Anschluss ja diskutiert werden kann.

Doch warum tun sie das? Nicht, weil sie es nicht besser wüssten, siehe oben, sondern weil sie es können – ganz ungehindert. Das hat auch mit denen zu tun, die gerade diesen Text lesen. Man müsste es den antiimperialistischen Kampañeros und ihren postmodernen Compañeros ja gar nicht so leicht machen. Man könnte diese Zeitung auch einfach einmal zuschlagen und etwas tun.

Das neue Mutbürgertum

Der Cembalist Mahan Esfahani fragt die Pöbler in der Kölner Philharmonie: »Wovor haben Sie Angst?« Doch sie haben gar keine Angst – im Gegenteil.

Artikel in der Jungle World Nr. 10, 10. März 2016

Ein triviales Motiv aus zwölf Sechzehntelnoten wird von zwei Klavieren zugleich gespielt, zunächst synchron. Kleine Geschwindigkeitsveränderungen lassen die Linien auseinanderlaufen und erzeugen Phaseneffekte, es wirbelt stereophon. Nach einer Weile ist alles wieder rhythmisch im Lot, nur sind die Linien jetzt um eine Note verschoben. Und so geht es immer weiter, der Komponist spendiert im Verlauf ein wenig Variation und Oktavierung. Das ist Steve Reichs »Piano Phase« aus dem Jahr 1967.

Eine kurze Tonfolge über längere zeitliche Strecken zu verteilen und hübsche akustische Effekte zu erzielen, reine Klanglichkeit also, hippieeske Psychedelik – dieser Minimalismus setzt beim Publikum keine große intellektuelle Kraft voraus, keine Kenntnis der Partitur, keine angestrengte Reflexion. Reich selbst meinte, hier gäbe es kein Argument.

Und doch: Als Mahan Esfahani das Stück kürzlich in der Kölner Philharmonie als Version für Cembalo und Zuspielband anmoderieren und interpretieren wollte, gab es statt konsumierbarem Effekt wutbürgerlichen Affekt. Schon den englisch gesprochenen Vorsätzen schallte entgegen: »Reden Sie gefälligst Deutsch!« Das Stück selbst musste dann wegen anhaltender Störungen aus dem Publikum abgebrochen werden.

Dabei galt der Eklat weniger dem Stück selbst. Er war eine Machtdemonstration jener Kulturbürger, denen der Sonntagnachmittag, an dem das Konzert stattfand, heilig ist. Ein Aufstand für Kaffee, Kuchen und Barockmusik. Letztere habe auf Darmsaiten gegeigt zu werden, »authentisch« im »Originalklang«. Darauf beharrend kommt das konservative Bürgertum wieder zu sich, auch wenn es sich dafür kurz vergessen muss. Das ist der neue deutsche Mut, im Konzertsaal ebenso wie auf dem Wahlzettel. Überhaupt ist dieses Bür­gertum in seiner postnazistischen Form gerade dabei zu beobachten, wie es im Versuch der Auf­erstehung noch seine letzten Grundlagen selbst zerstört. In einer solchen Phase wird es gefährlich.

Nun ist Neue Musik schon seit der ersten Zwölftonreihe in einen objektiven Widerspruch zum selbstzufriedenen Bedürfnis des Publikums geraten und ästhetisches Kampffeld gesellschaftlicher Widersprüche. Doch selbst dann, wenn sie sich im Fortgang – wie bei Steve Reich – der refle­xiven Anstrengung entledigte, blieb ihr nur eine eigensinnige Kleinstgruppe von Befürwortern.

Dagegen kämpfen manche Musiker verbissen an – mit allen Mitteln, auch illegitimen. Wenn zum Beispiel Barenboim heute Schönberg dirigiert, tritt er in Widerspruch zu Boulez und Gielen, so verschwimmt alles im Vibrato, jede Dissonanz wird gewaltsam zu einem schlechten Wagner verharmlost. Und doch gilt selbst bei dieser Konzes­sion ans Publikum der Applaus nicht der Kunst, sondern allenfalls dem Dirigenten, dem einschlägig engagierten Künstler, dem man seine modernistische Schrulle nachsieht. Neue und neueste Musik ist keine fürs Publikum im großen Saal. Im besten Fall wird sie dort tapfer ertragen. Der Streit im Kölner Publikum war darum auch keiner über Ästhetik, sondern nur noch über Anstand.

Nach dem Konzert meinte Esfahani: »Mein ­Gehirn explodiert jedoch bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn ich an dem Nachmittag in Köln wirklich etwas Neues gespielt hätte.« Man mag es sich nicht vorstellen.

Der Versöhnungsverweigerer

Eike Geisel wäre dieses Jahr siebzig Jahre alt geworden. Sein Denken erscheint noch heute zwingend – gegen die »Wiedergutwerdung der Deutschen«, gegen das Aufgehen der Linken in der Nation, und nicht zuletzt gegen sich selbst.

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Antiimperialisten sind hoffnungsfrohe Gestalten, selbst wenn die Umstände einmal garstig erscheinen: »Im Augenblick ihres vermeintlich größten Triumphes, im sogenannten 6-Tage-Krieg, der die imperialistische Hegemonie im Mittleren Osten und die Legitimation des zionistischen Staates mittels Expansion und Okkupation endgültig festschreiben sollte, wurden auch schon jene Momente sichtbar, welche die künftige Niederlage bestimmen.« Denn die Palästinenser traten endlich aus der »Ohnmacht bloßer Objekte heraus« und wurden »zum Subjekt des antiimperialistischen Kampfes in Palästina«. [Weinstock 1975, 9] Die Autoren dieser Sätze offenbarten ihre politische Vision einer Welt ohne Israel; sie argumentierten gar für die »Überwindung [der] kleinbürgerliche[n] Sichtweise, die einen säkularen palästinensischen Staat propagiert, in dem Juden, Christen und Moslems friedlich zusammenwohnen sollten«. [ebd., 10] Dergestalt gerierten sich die Verfasser nicht als linker Mainstream in Deutschland, sondern als antiisraelische Avantgarde. Auch ihr Gestus der verfolgten Unschuld war im schlechtesten Sinne progressiv: »Von den Repräsentanten der zionistischen Bewegung oder des Staates Israel wird jede Kritik der westdeutschen Linken als Wiederauf- und Fortleben antisemitischer Tendenzen bezeichnet. Mit mittelalterlichen Erbschuldbehauptungen versuchen sie, eines der wichtigsten Bildungsmomente junger Deutscher nach dem 2. Weltkrieg, nämlich die tiefe Abscheu vor dem Antisemitismus, in Kritiklosigkeit gegenüber Zionismus und Israel zu verkehren.« [ebd., 14] Dies alles ist zu lesen im Vorwort der deutschen Herausgeber einer 1975 erschienenen Fibel des marxistischen Antizionismus, Nathan Weinstocks »Das Ende Israels?«.

Weinstock selbst, damals noch französischer Trotzkist, hat sein Buch später als »einen großen Pflasterstein, der den linken Antizionisten als Munitionsreserve gedient hat«, bezeichnet und sah sich »auf den einzigen Platz gestellt, der für jüdische Gegner Israels reserviert ist: des ›nützlichen Idioten‹«. So durchschaute er schließlich die ihm zugedachte Rolle, erkannte den Antisemitismus im Antizionismus, war ernüchtert über Oslo und verbittert über die palästinensischen Massaker an Israelis [Weinstock 2006]. Einer der Autoren des Vorworts wiederum, Mario Offenberg, der einst über den »Kommunismus in Palästina – Nation und Klasse in der antikolonialen Revolution« promoviert wurde und unter anderem als Filmemacher einschlägig erfolgreich war – so erhielt er 1977 den Preis der PLO auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival –, wurde später, dem orthodoxen Judentum zuvor eher wenig zu­geneigt, Geschäftsführer der Israelitischen Synagogengemeinde Adass Jisroel in Berlin [Broder 1991]. Der andere Autor des Vorworts war Eike Geisel.

Und doch: Schon in seiner Zeit als radikaler Antizionist erkannte Geisel, wenn er auf die BRD reflektierte, neben allerhand Kapitalinteressen bereits die ganz gewöhnlichen Deutschen im Postnazismus, ihr scheckbuchbewaffnetes Schlussstrichverlangen, ihre besondere Hinwendung zu den Juden, kurzum die »Metamorphose vom Judenvernichter zum Philosemiten«: »Die positive Manier verrät […] allzu­sehr ihre Affinität zum Vergangenen, denn in der philosemitischen Maske ist nur die erneute Besonderung des Juden ins Werk gesetzt worden.« Er beschrieb bereits hier die »Wiedergutmachungszahlungen« an Israel als Form »au­ßenpolitische[r] Vergangenheitsbewältigung«: »Mit diesen ersten Zahlungen begann […] die BRD im westlichen Lager salonfähig zu werden und den ersten Abschlag auf die Absolution von der faschistischen Vergangenheit einzustreichen.« [Weinstock 1975, 15f.]

Eben diese Reflexion auf die hiesigen Verhältnissen ließ ihn spätestens Ende der siebziger Jahre auf Distanz gehen: zu Deutschland, zur Linken, zum Antizionismus, zu sich selbst. Henryk M. Broder meinte einmal, das, was Geisel da 1975 gegen Israel geschrieben hatte, nahm er sich später selbst übel [Broder 2009].

Libanon

Es gab einen historischen Moment, der immer wieder in Geisels späteren Texten auftauchte und der sein Denken tief verändert haben musste: Nachdem in den siebziger Jahren weltweit Terroranschläge gegen Juden verübt wurden, die zumeist unter Federführung der zu dieser Zeit vom Libanon aus operierenden PLO standen; nachdem während des Bürgerkriegs im Libanon, bei dem die PLO eine führende Partei war, immer wieder Angriffe auch auf israelisches Gebiet erfolgten; nachdem schließlich Terroristen der Fatah am 11. März 1978 in Israel eindrangen und den bis dahin schrecklichsten Terroranschlag im jüdischen Staat verübten – 37 Zivilisten wurden ermordet –, intervenierte Israel im Süden des Libanon, um die Bastionen der PLO zu zerschlagen. Geisel muss über sein eigenes politisches Milieu schockiert gewesen sein, in dem »nach dem israelischen Überfall auf den Libanon […] die bloß rhetorische Frage behandelt wurde: gibt es eine Wahlverwandtschaft zwischen Israelis und Nazis?« [Geisel 1992a, 146f.]

In dieser einen Frage verdichtete sich das postnazistische Elend und also das Bedürfnis nach nationaler Entlastung: das Umlügen der Opfer von einst zu den Tätern von heute, das Insinuieren eines jüdischen Faschismus, »nur um einen Ladenhüter der antisemitischen Propaganda« zu recyceln, »derzufolge die Judenverfolgung ein Akt der Notwehr sei«, die Vorreiterrolle ausgerechnet der Linken in diesem Projekt, wobei den alternativen vom gewöhnlichen Antisemitismus nur der Umstand unterschied, »dass der eine den anderen antifaschistisch rehabilitiert«, und somit die Tatsache, dass sich »der Antifaschismus zum abstrakten guten Gewissen gemausert« hatte. »Die politische Logik ist ergreifend einfach: Antifaschist kann nur sein, wer zuvor und zugleich Israel ablehnt und den Zionismus verurteilt.« [ebd., 147f] Hier blickte Geisel auch auf sich selbst zurück.

Und er verstand, wenn hierzulande die Frage ventiliert wurde, ob auch Juden Faschisten sein können, dass sie dann gestellt wurde, »um der eigenen Geschichte Generalpardon zu gewähren«. Zu lange schon warteten nämlich die Deutschen »auf die Gelegenheit, sich nicht trotz, sondern wegen der Juden als nationales Kollektiv zu konstituieren. Diese Gelegenheit kam mit dem israelischen Einmarsch in den ­Libanon«. Allen voran beim »Rollentausch von Juden und Deutschen« marschierten die Linken mit ihrer »so eifrig betriebene[n] Gleichsetzung von Israelis und Nazis«. Der deutsche Philosemitismus der früheren Jahre kippte zunehmend in sein nur scheinbares Gegenteil, denn darum ging es seit der vermeintlichen Stunde null: den nationalen Bruch von 1945 zu heilen, whatever works. »Ohne Skrupel deutsch sein ist, wonach die wunden Seelen lechzen. Und wenn Auschwitz vergleichbar wird, dann steht dem neuen Patriotismus nicht einmal mehr die bloß noch hypothetische Unterscheidung in Links und Rechts im Wege.« [Geisel 1984, 18–23]

Hinter der Fassade des vorgeblich judenfreundlichen Deutschlands erkannte Max Horkheimer schon das deutsche Bedürfnis, sich »zum rechten Patriotismus wieder das gute Gewissen zu machen« – und Geisel zitierte ihn damit immer wieder: »Die Kotaus vor den Widerstandskämpfern, die offiziellen Absagen an den Antisemitismus, von den Synagogenbesuchen der Bürgermeister bis zum Schweigen bei Anne Frank, all dieses bereits kleinlaut und formell gewordene Schuldgetue« habe bloß diese eine Funktion [Horkheimer 2008].

Jener Philosemitismus erfuhr dann, wie Geisel erkannte, eine Aufspaltung: Er galt zunehmend nur noch den toten Juden, um mit den in Israel lebenden ins Gericht gehen zu können. Den Juden in Deutschland blieb dabei allenfalls die Rolle des Gedenkveranstaltungsaccessoires; sie hatten mitzumachen beim Vergeben der deutschen Schuld, bei dem die Deutschen sich selbst verzeihend schon einmal einfach angefangen hatten. Waren Juden hierzulande stets »Manövriermasse der Macht«, so hatten sie dies gefälligst auch zu bleiben; ob man sie nun schützte oder ermordete, das hing stets allein von den Konjunkturen im »seelischen Haushalt der Nation« ab [Geisel 1998, 52].

Diese Aufspaltung zwischen dem Philosemitismus, der sich der toten und der lebenden, aber devoten Juden annahm, und dem Antisemitismus, der sich gegen die israelischen und die anderweitig renitenten Juden richtete, zeigte sich deutlich im gesteigerten »Interesse der Alternativen an Israel, die mit ihrer besonderen Empörung über den Libanonkrieg die Wiedergutwerdung der Deutschen zum Abschluss gebracht haben«. Für die Linke im Speziellen wie für die Deutschen im Allgemeinen wurde so »Israel wirklich zum Gelobten Land, nämlich zur seelischen Wiederaufbereitungsanlage«: »Seit Beirut macht der Antisemitismus aus seinem Herzen keine Mördergrube mehr.« [Geisel 1984, 72–75]

Erkenntnis und Methode

Erkenntnisse wie diese haben stets auch subjektive, biographische Momente. Bei Geisel gehörten dazu die Herkunft aus einfachsten Verhältnissen und einer zerrütteten Familie, seine Jugend im schwäbischen Internat, sein Wunsch, von dort fortzukommen. Die Chance ergab sich nach dem Abitur: Für die »Aktion Sühnezeichen« ging er nach Israel, lebte und arbeitete im Kibbuz, knüpfte Freundschaften zu vornehmlich linken Israelis. Ob dann als Student der Soziologie in Bonn und Berlin – er wurde über die Nationale Frage und die Linke promoviert –, ob während seiner Lehraufträge in Berlin und Lüneburg, ob bei der Arbeit an Essays, Radiofeatures oder Dokumentarfilmen, zentral war die Beschäftigung mit der Shoah, mit dem deutschen Postnazismus und dem jüdischen Staat. Diese Beschäftigung führte zeitweise in den Irrsinn des linken Antiimperialismus. Wolfgang Bock kolportiert in seinem Abriss über »Frankfurt in Lüneburg« und über die Verankerung der Kritische Theorie an der dortigen Pädagogischen Hochschule, an der zeitweilig auch Eike Geisel lehrte, dass dieser gar »in den 1970er Jahren an Schulungen in PLO-Lagern« teilgenommen haben soll, gleichwohl ohne dafür eine Quelle anzugeben [Bock 2008, 243].

Dass Geisel seine Positionen später so gründlich zu reflektieren und zu revidieren vermochte, hatte zwei wesentliche Voraussetzungen: Zum einen bedeutete ihm unabhängiges Denken nicht selbstgefälligen radical chic, sondern sich politisch unabhängig zu halten, sich also nie dauerhaft in Gruppen, Organisationen, Parteien oder Redaktionen zu engagieren; im Gegenteil galt für ihn stets und in der Sache wohlbegründet: im Zweifel fürs Zerwürfnis. Zum anderen bildete sich sein Vermögen, kritisch gegen die Welt und auch sich selbst zu denken, stets in der Auseinandersetzung mit dem Denken anderer aus.

Dass Geisel umfänglich Horkheimer und Adorno gelesen hatte, war für seine Generation linker Studenten noch üblich. Unüblich war, wie ernst er deren Folgerungen nahm: So ging es Kritischer Theorie nie um ein dogmatisches Abschließen irgendeiner, auch nicht der eigenen Theorie, sondern im Gegenteil um eben jene »Erfahrung, der es, ohne dass sie sich vorschnell durch vorhandene Theoreme absicherte und verblendete, noch gelingt an der Physiognomie der Gesellschaft Veränderungen wahrzunehmen« [Adorno 2003, 194]. Adornos Soziologie war für Geisel entscheidend als gesellschaftskritische Methode, weshalb er sich ganz auf Einzelphänomene kaprizierte, in ­denen ihm das Elend des Ganzen gebündelt schien, und die er auf ihre gesellschaftliche ­Bedeutung hin zu Ende dachte.

Dass sich überhaupt Theorie nicht mehr einfach auf Gesellschaft applizieren und fortspinnen ließ, lag ferner darin begründet, dass sich in Auschwitz Dinge ereignet hatten, »die sich mit dem vorhandenen Begriffssystem nicht mehr verstehen lassen«, so dass es grundsätzlich galt, die »bislang nicht in Frage gestellten Grundannahmen über den Lauf der Welt und über das menschliche Verhalten zu überdenken« [Arendt 1989, 7]. Genau hier traf Eike Geisel auf Hannah Arendt, deren Werk für ihn ab den späten siebziger Jahren immer wichtiger wurde. Dass sie sich persönlich in einem geradezu idiosynkratischen Verhältnis zu Horkheimer und Adorno befand, dementierte ja nicht die thematische Nähe, und so standen genau diese methodischen Überlegungen Arendts auch am Anfang der von Geisel später übersetzten und zusammen mit Klaus Bittermann herausgegebenen Essays. Linke Gewissheiten jedenfalls waren und sind weder mit Kritischer Theorie noch mit Hannah Arendt zu halten. Gehörten die Frankfurter noch zur politischen Biographie der Achtundsechziger, so hatte sich mit Arendt zu beschäftigen in linken wie überhaupt in deutschen Zusammenhängen ­einen haut goût.

Vollendete Sinnlosigkeit

Von Hannah Arendt hatte Geisel die Einsicht, dass der Nationalsozialismus zwar einer unbeugsamen Logik folgte, diese aber keinen wie auch immer gearteten Sinn mehr hatte, keinen Zweck, keinen Vorteil, kein Nützlichkeitskriterium. Die Ermordung der Juden war beispiellos darin, dass sie auch um den Preis der Selbstzerstörung der Täter betrieben werden sollte, »dass weder ökonomische noch militärische Erwägungen das Vernichtungsprogramm beeinträchtigen« durften. Und auch das war beispiellos: Das Verbrechen der Lagerinsassen war ihre bloße Existenz; sie waren selbst »aus Sicht des Regimes betrachtet vollkommen unschuldig, in jeder Beziehung harmlos«. Sie sollten auch nicht einfach ermordet werden, sondern »in einen permanenten Zustand des Sterbens« versetzt werden, sie sollten »bloß noch verlässliche Reaktionsbündel« mit »identischen Reaktionen« sein. Hannah Arendt schlussfolgerte: »Das einzigartige ist weder der Mord an sich, noch die Zahl der Opfer, ja nicht einmal ›die Anzahl der Personen, die sich zusammengetan haben, um all das zu verüben‹. Viel eher ist es der ideologische Unsinn, die Mechanisierung der Vernichtung und die sorgfältige und kalkulierte Einrichtung einer Welt, in der nur noch gestorben wurde, in der es keinen, aber auch gar keinen Sinn mehr gab.« [Arendt 1989, 8–30]

Diese Einsichten waren folgenreich für Eike Geisel: »Vor diesem Massenmord steht alle Philosophie ohne Auskunft, jede Sinngebung wird zur Lüge [… Die Toten der Lager] sind umsonst gestorben, für niemand und nichts. Nur zum Tod bestimmt war auch das je besondere Leben zu Nichts geworden. Und eine Gesellschaft, in der nur noch gestorben wurde, ergab keinen Sinn mehr.« [Geisel 1984, 86] Alle Rationalisierungsversuche gehen fehl, schlimmer noch, diese Versuche, »einen Gegenstand, dem keinerlei Vernunft innewohnt, unter Bestimmungen des Denkens zu zwingen, münden immer in Ideologie.« Bis dahin war es jedes geschichtliche Denken gewohnt – und das ging insbesondere an die Adresse der Linken –, »noch in den größten Verbrechen der Vergangenheit eine zumindest unvermeidliche Abschlagszahlung der zu vernünftigen gesellschaftlichen Verhältnissen emporstrebenden Menschheit zu sehen« [ebd., 92]. Spätestens nach der Shoah war derlei nicht mehr zu behaupten.

Doch noch die vollendete Sinnlosigkeit sollte dem postnazistischen Deutschland zur neuen nationalen Identitätsstiftung taugen. Ohne Auschwitz keine »Wiedergutwerdung der Deutschen«, ohne Waffen-SS kein patriotischer Pazifismus, ohne »Stunde null« kein Wirtschaftswunder: »Denn in Wahrheit hat die Massenvernichtung bewiesen, erstens, dass man sie veranstalten kann, und zweitens, dass ein derartiges Verbrechen langfristig gut ausgeht.« [Geisel 1992a, 59]

Beton und Moral

Dagegen opponierte Geisel und arbeitete die ideologischen Wegmarken des Postnazismus heraus: Zunächst ging es in der BRD darum, den Nationalsozialismus von der Gegenwart abzurücken, ihn zu historisieren. »Kaum war das organisierte Morden damals zu Ende, wurde von der ›Vergangenheit‹ gesprochen.« [Geisel 1984, 96] Dagegen machte Geisel die Gegenwart der Vergangenheit gerade dort aus, wo das Gegenteil behauptet wurde, wo vorgeblich aufgearbeitet wurde: »Dass die Deutschen mit der nämlichen Betriebsamkeit, die sie einst beim Vernichten und danach beim Vergasen an den Tag gelegt hatten, sich nun an die eigene Vergangenheit machten, diesem Umstand haftet etwas Groteskes an.« [ebd., 63] Unter der Fülle des Materials wurde nämlich die Konsequenz dessen, was es bedeutet, absichtsvoll verschüttet und »der einzig möglichen Antwort auf Auschwitz: die unmittelbare Herbeiführung von Verhältnissen, unter denen es sich nicht wiederholen könnte, die letzte Chance ­genommen, Gestalt anzunehmen«. [ebd., 18]

Hatte man den Nationalsozialismus erst auf historischen Abstand gebracht, machte man ihn sich nun kommensurabel: durch Anschaulichkeit, Besinnlichkeit und Verständnis, und »so wurde der Gedanke vom Geschwätz begraben, die Geschichte von Geschichten eingenebelt, das Argument in einer Materialschlacht erdrückt« [ebd., 64]. Diese Geschichte »zum ­Anfassen« wurde zum rechten Erlebnis, man ergriff nun eine jede Gelegenheit, tief betroffen zu sein [ebd., 14f].

Schließlich entdeckten die Deutschen ihre »Fähigkeit zu mauern« und bauten ein Holocaust-Mahnmal, das größtmögliche natürlich, ausgerechnet in dem Land, in dem es ein solches nicht gebraucht hätte: weil es selbst eines ist [Geisel 1998, 61]. Man baute es den Juden – doch eigentlich sich selbst: Die Schuld, so sollten es die Stelen dokumentieren, sei hiermit endgültig getilgt.

Die ermordeten Juden wurden so zu äußerst nützlichen Toten und kamen regelrecht ins Geschäft: identitätsstiftend als »negativer Gründungsmythos« der Nation. Dies klingt auch durch beim aktuellen Bundespräsidenten Joachim Gauck, der »in Wahrheit leben« und von dieser Wahrheit profitieren will: »Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.« [Gauck 2015] Doch nicht allein im pastoralen Denken kann nur der größte Sünder auch zum größten Büßer und darüber zur moralischen Lichtgestalt sich wandeln. Ausgerechnet die deutsche Linke vollendete »die Profanisierung der auf Exkulpation bedachten Theologie und vervollkommnete die Mystifizierung der Geschichte, indem sie das Schicksal der Juden zum abstrakten Symbol, zum wiederverwertbaren Fetisch, zur Anstecknadel und Gesinnungsbrosche vernutzte« [Geisel 1984, 24].

Indem die Deutschen sich gefühlig vor allem auf das allgemein menschliche Leid kaprizierten, konnten sie sich nunmehr als »Volksgemeinschaft von Hinterbliebenen und Kriegsopfern« inszenieren. »Die Deutschen hatten zwar den Krieg verloren, sollten aber als Vernichtungsgewinnler aus ihm hervorgehen, ­indem sie den Ermordeten noch die Rolle des Opfers stahlen.« [Geisel 1992a, 10] Gerierten sich die Deutschen eine Zeit lang noch als Täter und Opfer zugleich, so war dies doch nur ein Durchgangsstadium; die »Formel vom Nationalsozialismus als Verbrechen und Strafe« stellte sich als »bloß zeitbedingte Konzession heraus« [ebd., 9]. Die Deutschen hatten sich nämlich »nie als Bürger der Welt, sondern immer nur als Verdammte dieser Erde gesehen«: »Opfer Hitlers, dann der Siegermächte, des kalten Krieges, der Nachrüstung, der Verseuchung, der kulturellen Kolonialisierung und in regelmäßigen Abständen auch als Objekt moralischer Erpressung durch Israel oder das amerikanische Judentum.« [Geisel 1998, 55]

Korrespondierend zu ihrer Opferhaltung etablierten die Deutschen die Geschichte vom »anderen Deutschland«, von den »guten Nazis«. Den Mythos vom »Deutschen Widerstand« um Stauffenberg fertigte Geisel mit einem Verweis auf Churchill ab, »der im Sommer 1944 im Unterhaus gesagt hatte, bei den Vorgängen des 20. Juli 1944 handle es sich um ›Ausrottungskämpfe unter den Würdenträgern des Dritten Reiches‹« [ebd., 10] – kurzum ein sehr deutscher Widerstand innerhalb des Nationalsozialismus, aber sicher kein antifaschistischer gegen Deutschland. Und Oskar Schindler, der »gute Deutsche« – für Geisel eine contradictio in adjecto –, »war freilich nur Schindler, eine sin­guläre Erscheinung, eine Person, die im Wortsinn auf eigene Rechnung und auf eigenes ­Risiko gehandelt hat. Seine Landsleute hätten ihn denunziert, gehetzt, erschlagen. […] Die Deutschen haben, wie auch im Fall vereinzelter Widerstandskämpfer, nicht den geringsten Grund, ihn für die Nation einzukassieren. Denn als Typus hat es ihn nie gegeben.« [ebd., 97f]

Skeptisch gegen die »manische Beschäftigung der Deutschen mit jüdischen Dingen« [Geisel 1992a, 16] dechiffrierte Geisel den deutschen Judenneid als Opferneid. Und in der behaupteten »besonderen Verantwortung für die Juden« und in der Volte zur »Kritik« am jüdischen Staat, also im Bedürfnis der Deutschen, die Bewährungshelfer der Juden zu spielen, verriet der Philosemitismus früh schon seine Wahrheit als Antisemitismus. Geisel analysierte ein »unersättliches Verlangen, die einst Ausgestoßenen sich auf jede nur denkbare Weise einzuverleiben, sei es durch die grassierende Vorliebe für jüdische Vornamen, die peinliche Überwachung israelischer Politik, den ununterbrochenen christlich-jüdischen Dialog, die Inbesitznahme jiddischer Folklore«, denn »am jüdischen Wesen soll Deutschland genesen« [Geisel 1992a, 60]. Die Aufgabe der Juden sei es dabei allenfalls, »für die Bonität der Firma zu bürgen oder zuhause den Henker zu trösten«, [ebd., 67], oder aber »als moralische Pausenclowns für das wohlige Gruseln, für die kleine Betroffenheit zwischendurch zu sorgen«: »Die Juden erinnern an die Pogrome und die Deutschen veranstalten sie. Die Juden mahnen und die Deutschen machen.« [ebd., 73]

Philosemitische Ergriffenheit und antiisraelisches Ressentiment, deutscher Opfergestus und betonierte Aufarbeitung – dergestalt wurde »Erinnerung in Deutschland zur höchsten Form des Vergessens« [ebd., 42].

Unabgegoltene Geschichte

Gegen dieses Vergessen bot Geisel nicht allein politische Essays und Polemiken auf. An Walter Benjamin anschließend, machte er den Gedanken stark, »die Toten nicht dem Feind zu überlassen«. Genau das sei »der bestimmende Grund subversiven Denkens und revoltierender Praxis« [Geisel 1984, 33]. Hier setzten seine Dokumentationen an.

Als Geisel sich um 1980 mit dem Ostberliner Scheunenviertel beschäftigte, war es längst verschwunden: »Nichts, was die Juden im Haus des Henkers zum bunten Völkchen machen könnte, ist erhalten […] nachdem die Helden Scholem Alejchems umgebracht worden sind […] Punktuelle Nostalgie und flächendeckender Optimismus, der aus Ruinen sich erhebt, das sind die Markenzeichen der neuen Vergesslichkeit, in welcher die Geschichte und damit das Grauen verschwindet.« [Geisel 1981, 13] Er interessierte sich für das Scheunenviertel, weil es Anfang des 20. Jahrhunderts ein zuvörderst ostjüdisches Elendsquartier war, ein Ort der Geschichte jener Juden, die untauglich für die Vereinnahmung durch den Postnazismus waren: keine »Kammermusiker, Philantropen und Nobellpreisträger« [Geisel 1998, 31], deren Ermordung die Deutschen sich selbst weniger als Tat denn als Verlust anrechneten, sondern Flüchtlinge, Hausierer, Kriminelle, Strandgut ihrer Epoche, kurzum: Überflüssige damals wie heute. Geisel interpretierte deren Geschichte aus der Perspektive der Vernichtung; ihn in­teressierte nicht mehr, ob es hätte anders kommen können, da er ja wusste, wie es kam. Alte Adressbücher las er als Transportlisten.

Dabei erzählte er die Geschichte nicht selbst, vielmehr versammelte er Texte aus jener Zeit: von Joseph Roth und Alfred Döblin, von Franz Kafka, Arnold Zweig und Alexander Granach, aber auch von Unbekannteren, die im Viertel lebten oder es besuchten. Hier wurden die Hoffnungen und vor allem das Elend der Ostjuden als Fremde par excellence beschrieben: zum einen die Schikanen und Kontrollen durch einen Staat, der Menschen zur Verwaltungs- und Manövriermasse und zur Polizeiangelegenheit machte, zum anderen die Plünderungen und Misshandlungen durch ganz gewöhnliche Deutsche. Da erscheint 1933, wie Geisel feststellte, gar nicht mehr als Einbruch, weder als jähes Ende noch als abrupter Anfang, weil »die einzige Originalität der Nationalsozialisten nur noch darin bestand, dass sie wahr machten, wonach die Deutschen schon damals verlangten« [Geisel 1981, 20].

Zehn Jahre nach dem Scheunenviertel-Projekt forschte Eike Geisel zusammen mit Henryk M. Broder zum Jüdischen Kulturbund 1933–41, zum »Ineinander von Kultur und Terror«, bei dem die Opfer »ihre Zurichtung mit einem kulturellen Rahmenprogramm schmücken durften und vor ihrer Hinrichtung fidel sein sollten« [Geisel 1992b, 8]. Der jüdische Kulturbund war das Ergebnis eines nationalsozialistischen Verwaltungsaktes: aus der Binnenperspektive ein Instrument zur »Abschaffung einer materiellen Obdachlosigkeit« wie zur »Schaffung einer moralischen Behausung« [ebd., 10], aus der NS-Perspektive aber ein perfides Pilotprojekt, »die Juden planmäßig zu ghetto­isieren« [ebd., 30] und sich selbst verwalten zu lassen.

Broder und Geisel hatten Protagonisten des jüdischen Kulturbundes, die vor der Vernichtung noch rechtzeitig fliehen konnten, selbst um Bericht gebeten. Und diese erzählten von ihrem großen Glück zu dieser Zeit, vom Theater als Rettung, von Naivität und Selbstbetrug, vom Nichtsehenkönnen weil Nichtsehenwollen, vom Streit um Hierbleiben oder Fortgehen, ob nach Amerika oder Palästina, von der Frage, ob die Illusion nicht oft die Flucht bis zur tödlichen Unmöglichkeit verschoben hatte, von der Zusammenarbeit jüdischer mit nationalsozialistischen Funktionären und von der schrecklichen Erwägung, ob diese jüdische Selbstverwaltung den Nazis nicht de facto zugearbeitet hatte.

Geisel beschloss diese Berichte mit Überlegungen über das »nazistische Kalkül, die Opfer in den Vernichtungsprozess einzuspannen«. Die Selbsthilfe der ausgestoßenen Künstler endete später im selbstverwalteten Kulturprogramm in den Ghettos und Lagern, in Theresienstadt und Westerbork: »Morgens Deporta­tion und abends Revue: Mit Musik ging wirklich alles besser.« [ebd., 294] Hierin liegt das banale Geheimnis totaler Herrschaft, »sie geht nicht allein über die Opfer hinweg, sondern auch durch diese hindurch« [ebd. 314]. »Nicht umsonst bestand die SS darauf, dass die Opfer nicht nur keinen Widerstand leisteten, sondern sich selbst aufgaben. Denn erst mit der mora­lischen Zerstörung, die der physischen Vernichtung vorausging, erst mit dem Einverständnis des Opfers war der Sieg der Nazis perfekt. Alles anderen waren logistische Probleme.« [ebd., 331]

Hannah Arendt erfuhr einst von Gershom Sholem harsche Kritik: »In den Lagern wurden Menschen entwürdigt und, wie Sie selber ­sagen, dazu gebracht, an ihrem eignen Untergang mitzuarbeiten […] Und deswegen soll die Grenze zwischen Opfern und Verfolgern verwischt sein? Welche Perversität!« [Arendt 1989, 67] Geisel selbst versagte sich jedes Urteil über die jüdischen Funktionäre, verdeutlichte vielmehr deren grauenhafte Situation. Noch das erpresste jüdische Mitwirken begründete für Geisel die schärfste Anklage gegen die deutschen Täter.

Das ist der Grund, warum solche Studien auch nicht im Rahmen der deutschen Vergangenheitsbewältigung stattfanden, sondern sich ausdrücklich gegen sie richteten: weil nicht aufgearbeitet und bewältigt werden konnte, was unabgegolten blieb, weil »Erinnerung und Eingedenken ein gnadenloses Strafgericht ­heraufbeschwören könnten«. [Geisel 1984, 108] Hier setzte Geisel auch den Gedanken an, dass es keiner Trauer bedürfte, sondern »des rächenden Hasses als des durch die instrumentelle Vernunft am wenigsten in zivilisatorische Schranken gezwängten Triebes […], um die Gesellschaft von diesem Alptraum für immer zu befreien. Ohne diesen Blitz in das Dunkel der Geschichte bleibt die Befreiung nur eine halbe.« [ebd., 86] Doch diese Rache blieb aus.

Den Siegern Einhalt gebieten

Die Emphase, dass dies alles doch nicht wahr sein könne, auch wenn es Wirklichkeit ist, muss man teilen wie die Momente des Leidens und auch Verzweifelns daran, um Geisel in seinen Verdikten zu folgen. Jenen, die sich mit den deutschen Verhältnissen einverstanden ­erklärt haben, gilt Geisel dagegen seit je nur als Polemiker, denn bei ihnen soll ja »der Gedanke daran, dass es unabgegoltene Rechnungen in der Geschichte gibt, nicht aufkommen« [Geisel 1998, 146]. Bürgte gerade die apodiktische Form Geisels für die Triftigkeit der Erkenntnisse, denunzierten seine Gegner meist die Form, wo sie doch den Inhalt meinten. Dabei spitzte Geisel die Realität in seinen Texten nicht zu, vielmehr dokumentierte er die längst zugespitzte Realität und brachte sie auf den Punkt.

Geisel hatte keine Utopie mehr aufzubieten. Er beharrte auf dem Riss, »der irreparabel durch die Geschichte geht« [ebd., 16]. Gerade indem er fortwährend auf dieses Unabgegol­tene und Irreparable in der Geschichte verwies, hielt er an der Idee eines gesellschaftlich Anderen doch fest. Dass es einmal anders würde, war gleichwohl nicht in den Institutionen zu erreichen; er wollte kein Mitmachen in mildernder Absicht, auch der Hochschulbetrieb schien ihm kein Ort mehr für kritisches Denken, denn »nichts hat dem Marxismus im Westen radikaler den Stachel gezogen als seine Aufhebung in Professoralform; nichts garantierte so vorzüglich die absolute Harmlosigkeit der Kritischen Theorie wie deren akademische Institutionalisierung« [ebd., 46].

Er blieb unversöhnlich gegen die Verhältnisse, denn diese »dementieren jede Aufklärung« [Geisel 1984, 9], unversöhnt mit der Geschichte: »Nicht Revolution, nicht Rache, stattdessen Reprisen.« [ebd., 33] Weil aber auch die falsche Geschichte von Menschen gemacht wird, schrieb er gegen deren Protagonisten an und hatte, so wird berichtet, oft große Freude daran. Er wusste gegen jede Resignation: Solange noch nicht jede Kritik eingehegt und integriert ist und Widerspruch gegen ein Nicht-Sein-Sollendes noch vernehmbar wird, solange das, was Gesellschaft heute darstellt, als aktuelle Konkretion des andauernden Falschen noch kenntlich gemacht werden kann, bleibt – wie prekär auch immer – das gültig, wie Adorno Spinoza umformulierte: »Falsum index sui et veri […] Das heißt, vom Falschen, d.h. von dem als falsch Kenntlichen aus bestimmt sich das Wahre.« [Adorno 1975, 70]

Doch jene, gegen die sich Eike Geisel wandte, stört er nicht mehr. Sie haben ihn verdrängt und absichtsvoll vergessen. Für den Moment scheint es: Sie haben gewonnen. Es ist ein Akt des verlegerischen Widerstandes gegen diese Sieger, dass Klaus Bittermann jüngst wichtige Texte Geisels neu verlegte [Geisel 2015]. Sie sind zu lesen.


Zuerst erschienen in: Jungle World, 5. November 2015, 19. Jahrgang, Nummer 45 (http://jungle-world.com/artikel/2015/45/52970.html)


Literatur

[Adorno 1975] Adorno, Theodor W. / Bloch, Ernst: Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. In: Taub, Rainer / Wieser, Harald: Gespräche mit Ernst Bloch. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1975, S. 58–77

[Adorno 2003] Adorno, Theodor W.: Anmerkungen zu einem sozialen Konflikt heute. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften Bank 8. Soziologische Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2003, S. 177–195

[Arendt 1989] Arendt, Hannah: Nach Auschwitz. Essays und Kommentare. Herausgegeben von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin: Verlag Klaus Bittermann 1989

[Bock 2008] Bock, Wolfgang: Frankfurt in Lüneburg. Zum Motiv der Kritischen Theorie in der Diaspora, samt Interview mit Christoph Türcke. In: Faber, Richard und Ziege, Eva [Hrsg.]: Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften nach 1945. Würzburg Königshausen & Neumann 2008, S. 235–261

[Broder 1991] Broder, Henryk M.: Tote Seelen in Berlin. In: DIE ZEIT, 27.9.1991, Nr. 40

[Broder 2009] Broder, Henryk M: Weinstock wird erwachsen. Henryk-Broder.com 2009. http://henryk-broder.com/hmb.php/blog/article/4424, 03.09.2015

[Gauck 2015] Gauck, Joachim: Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag. bundespraesident.de 2015. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150127-Bundestag-Gedenken.html, 03.09.2015

[Geisel 1981] Eike Geisel: Im Scheunenviertel. Bilder, ­Texte und Dokumente. Berlin: Severin & Siedler 1981

[Geisel 1984] Geisel, Eike: Lastenausgleich, Umschuldung. Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays, ­Polemiken, Stichworte. Berlin: Verlag Klaus Bittermann 1984

[Geisel 1992a] Geisel, Eike: Die Banalität der Guten. ­Deutsche Seelenwanderungen. Berlin: Verlag Klaus Bittermann 1992

[Geisel 1992b] Geisel, Eike und Broder, Henryk M.: Premiere und Pogrom. Der Jüdische Kulturbund 1933–1941. Berlin: Siedler-Verlag 1992

[Geisel 1998] Geisel, Eike: Triumph des guten Willens. Gute Nazis und selbsternannte Opfer. Die Nationalisierung der Erinnerung. Berlin: Verlag Klaus Bittermann 1998

[Geisel 2015] Geisel, Eike: Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays & Polemiken. Berlin: Verlag Klaus Bittermann 2015

[Horkheimer 2008] Horkheimer, Max: Hinter der Fassade. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften Band 6. »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft« und »Notizen 1949–1969«. Frankfurt am Main: Fischer, 2. Auflage 2008, S. 302–303

[Weinstock 1975] Weinstock, Nathan: Das Ende Israels? Nahostkonflikt und Geschichte des Zionismus. Herausgegeben und eingeleitet von Eike Geisel und Mario Offenburg. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1975

[Weinstock 2006] Weinstock, Nathan: Das Bekenntnis ­eines ehemaligen Antizionisten. haGalil.com 2006. http://www.hagalil.com/archiv/2006/09/weinstock.htm, 03.09.2015

Wir sind die Guten

Siebzig deutsche Jahre: keine Rache, keine Revolution, stattdessen Reprisen mit Happy End. Deutschland hat sich aufgearbeitet, seine Lehren gezogen, seinen Frieden gefunden. Und es ist endlich wieder Weltmeister: des Ballsports, der Herzen, der Moral.

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Doch das war ein langer Weg. Auf diesem erwies sich die von rechts zunächst versuchte Ewiggestrigkeit als ein untaugliches Mittel: zu unleugbar waren die Verbrechen, die ja „nicht nur ein Mord an Massen, sondern auch eine Veranstaltung von Massen“ waren, wie Eike Geisel einmal schrieb, unmöglich erschien es, das Bedürfnis, dass alles wieder gut sein möge, mit der eigenen Schuld zu versöhnen. Es brauchte ein anderes Modell als diese Ewiggestrigkeit, und Geisel brachte dieses als die „Wiedergutwerdung der Deutschen“ auf den Begriff. In diesem integrierte man die guten, weil toten Juden ins nationale Gedächtnis, man baute sich das weltgrößte Holocaustmahnmal, damit niemand übersähe, wie monströs aufgebarbeitet man nun sei, machte so Erinnerung zur höchsten Form des Vergessenes, und konnte fortan umso unbeschwerter die in Israel lebenden und sonstwie renitenten Juden als die neuen Täter identifizieren. Und schließlich ließ man die Linke ein neues biodynamisches Heimatgefühl, einen multikulturell drapierten Patriotismus ausleuchten, auf den man sich dann gesamtgesellschaftlich verständigen konnte. Wer je Bilder von Claudia Roth in Robe in Bayreuth [1], im Dirndl auf der Wiesn [2] und mit Kopftuch im Iran [3] sah, hat hier die Illustration: das ist der Karneval der Kulturen nach postnazistischer Art, mal kreischend fröhlich, mal einfühlsam dialogisierend, aber immer guten Gewissens, immer kultursensibel: ob beim saufenden Siegfried oder beim mordenden Mullah. Was damals Eike Geisel mit der „Wiedergutwerdung der Deutschen“ noch als Prozess beschrieb, kann man dergestalt heute in seinem Resultat betrachten. Wir können wieder unverkrampft „Wir“ sagen.

Zugegeben: Die Kritik an diesem sich neu definierten nationalen Kollektiv befindet sich in einer prekären Lage, denn wo inzwischen fast alle wieder selbstzufrieden deutsch sind, wirkt jeder Einspruch wie tumbe Nörgelei. Doch wenn man ein wenig mit den Texten Eike Geisels das eigene Denken gelernt hat, so befindet man sich unwohl dort, wo das nationale Kollektiv sich zusammenschließt, und sei es zur „Olympiade guter Gesinnung“. Dann will man Geisels Befunde der deutschen Psychopathologien weiterdenken und aktualisieren, um – man genehmige mir hier eine Pathosformel – das gesellschaftlich Andere zumindest noch als Denkmöglichkeit zu retten.

Drei Ansatzpunkte für ein Weiterdenken möchte ich dazu vorschlagen:

Erster Ansatzpunkt: Die „Vollreinigung der deutschen Geschichte“, von der Geisel einst sprach, lief bekanntlich nicht auf eine Wiederherstellung der alten Volksgemeinschaft hinaus, wie von manchen Linken 1989/90 befürchtet, und von Leitartiklern in der FAZ und Bierbüchsenpatrioten in Freital und Pirna heute noch erhofft. Das nationale Kollektiv konstituiert sich heute gerade nicht mehr rassistisch – sondern postmodernisiert ideologisch.

Die Konsensstiftung findet dabei zuvörderst statt über das Ressentiment gegen Amerika und Israel; man denke an die Verachtung für George W. Bush, weil der noch Tyrannen zu stürzen wagte, man denke an die hämische Freude über den geopolitischen Niedergang der Amerikaner, die seit Obama nur noch rote Linien ziehen, deren Überschreiten aber allenfalls mit Dialogangeboten sanktionieren, man denke auch an die präzedenzlose weil einstimmige Annahme der antiisraelischen Gaza-Resolution 2010 im Bundestag… Ausgerechnet in solchen Fragen gibt es keine Parteien mehr, nur noch Konsens.

Neben diesem ideologischen Kitt gilt als Geschäftsgrundlage des neuen Deutschlands etwas, das auch schon die alte Volksgemeinschaft auszeichnete: das Diffundieren von Staat und Gesellschaft. Wir erleben dies aktuell beim „Refugees Welcome“: statt ein verbindliches Recht auf Asyl und ein Leben in Würde, das der Staat zu garantieren hat, politisch einzufordern, bestimmen zivilgesellschaftliches Engagement, freiwillige Hilfe und großherzige Spenden das Bild. Ohne sichtbaren Protest kann dieser Tage eine ganz große Koalition die verbindlichen und einklagbaren Rechte der Flüchtlinge demontieren, während die Zuwendungen der privaten Helfer noch als gutgemeinte Almosen fungieren, die gleichwohl emotionalen Konjunkturen unterliegen. Zwar mangelte es diesem Staat ja zu keiner Zeit an finanziellen oder logistischen Mitteln, und es wäre stets die vornehmste Aufgabe des Staates, die Flüchtlinge zu versorgen und ihre Rechte zu garantieren, und doch wurde deren Aufnahme von Anfang an als nationale Kraftanstrengung und als kollektive Leistung verstanden. „Wir schaffen das!“, meinte die Kanzlerin. Und es es lohnt sich ja auch: Es winkt moralischer Profit.

Womit ich beim zweiten Ansatzpunkt bin: der organisierten Zivilgesellschaft. Es gibt unzählige Stiftungen und NGOs in diesem Land, die allermeisten von Staats- und Parteigeldern abhängig, oder zumindest ihren Geldgebern verpflichtet, durch Nähe zum politischen Apparat entsprechenden Einfluss zu suggerieren, was ihr kritischen Potenzial per se dementiert. Doch selbst die Klügsten und Unabhängigsten unter ihnen betreiben oft einen sich in symbolischen Aktionen erschöpfenden NGO-Zirkus. Und das nicht zuletzt dann, wenn sie sich gegen Antisemitismus und Rassismus engagieren: da geht es um „kreative Projekte“, die „Mut machen“, „laut und bunt“ und „bunt statt braun“, die Phrasen fliegen hoch, die Fakten tippt man ins Internet, und unter der Rubrik „Service“ erstellt man eine Liste der Todesopfer rechter Gewalt. [4]

Natürlich kennt man auch in diesen Vereinen seinen Adorno und grüßt am 11. September ganz wohlgelaunt auf Facebook zum „Happy Adorno Day“. [5] Aber man hat weder von ihm noch von Hannah Arendt, Eike Geisel und all den anderen so oft Zitierten gelernt, dass gegen Antisemiten und Rassisten keine vernünftigen Argumente helfen, weil deren Ungeist nur mit Wahn und deren Trachten nur mit vollendeter Sinnlosigkeit zu beschreiben sind. „Die Verhältnisse dementieren die Aufklärung“, schrieb Eike Geisel.

Trotzdem gibt es „Aktionswochen gegen Antisemitismus“ und Twitter-Kampagnen wie „Nichts gegen Juden“. Da gibt es Fakten wie Kieselsteine ohne Zahl und wie Hinkelsteine schwer, die einen Augsteinjakob zerschmettern müssten; da ruft man dessen Geisteskind zu: „…hör’ auf mit zionistischer Weltverschwörung und informiere Dich!“ [6] Was dieses, darf gehofft werden, auch tut, um sich vom Saulus zum Paulus und vom Müllermeierschulze zum Wiesengrund zu wandeln.

Falls man mit dieser „Aufklärung durch Fakten“ wider Erwarten erfolglos bleiben sollte, kann man immer noch „breite Bündnisse“ ausrufen, „Koordinierungsräte deutscher Nicht-Regierungsorganisationen“ oder „Netzwerke zur Erforschung und Bekämpfung“ von diesem oder jenem gründen, „Strategiekonferenzen“ abhalten, Forderungskataloge erstellen und Petitionen verfassen. Denn das muss ein bewährtes Verfahren sein, sonst würde man es ja nicht ständig wiederholen. Und so läuft der NGO-Zirkus, das Hamsterrad dreht sich, und alle Hamster rufen: „Wir meckern nicht! Wir tun etwas!“ Das ist es wohl, was Eike Geisel einmal die „Selbstinszenierung der edlen Seelen“ nannte: „Jeder sein eigener Herzenswärmer, jeder sein eigenes leuchtendes Vorbild und alle zusammen von erwiesener Harmlosigkeit.“ Dabei ist „Harmlosigkeit“ noch das Mildeste, was man der Zivilgesellschaft vorwerfen kann, aber man fühlt sich ja der Freundlichkeit verpflichtet.

Festzuhalten bleibt: Die NGOs der Zivilgesellschaft sind integraler Bestandteil des Kollektivmodells Deutschland: An sie wird die möglichst unkritische Behandlung und mithin die für die Aktivisten moralisch profitable Verwaltung des Antisemitismus und Rassismus abgegeben, ihre Aufgabe ist, um Eike Geisel zu zitieren: „Reputationskosmetik – Innerlichkeit für den Außenhandel“.

Schließlich zu einem dritten Ansatzpunkt, um Geisels Beobachtung von der „Wiedergutwerdung der Deutschen“ weiterzuverfolgen, und um ein weiteres Moment der Konsensstiftung aufzuzeigen: die Friedensliebe. Denn den Deutschen fällt, wenn Barbaren heute morden, allein der Ruf nach Frieden ein, und darin scheint noch die unangenehme Erinnerung auf, dass man selbst einmal gewaltsam und von außen gestoppt werden musste.

Schauen wir zur Illustration ins Parlament, und es offenbaren sind nicht ohne Grund zuerst die Wortführer der Linken. Der Grüne Anton Hofreiter, ein Bayer mit Facebook und Lederhose, bekundete mit Blick auf den Westen: „Wer jetzt in Syrien militärisch eingreifen will, wird den Konflikt nur weiter eskalieren und zwingt noch mehr Menschen in die Flucht.“ Das ist die moralisch aufgeblasene Unmoral des zeitgenössischen Pazifismus’: Eine Viertel Million Menschen starben bereits im Syrischen Krieg seit Anfang 2011, mehr als 11,6 Millionen Syrer sind heute auf der Flucht. Aber der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag will nicht, dass man Assad und dem IS das Handwerk legt – by any means necessary. Der Hofreiteranton hat einen anderen Plan: „Wir brauchen zu allererst einen politischen Prozess – unter Einschluss Russlands, sowie der wichtigsten Nachbarstaaten.“  [7] Das ist auch die Forderung Putins, der Wunsch des Iran, die Lebensversicherung Assads. Das ist heute alternative Politik in Berlin. Schon Geisel meinte, die Grünen seinen kein Gegenstand mehr der Kritik, sondern nur noch der Verachtung.

Doch die Grünenschelte greift zu kurz, denn die Partei Die Linke sieht das ähnlich, wenn Wolfgang Gehrke fordert, „von der Politik des Regimechange abzurücken und sich auf eine Übergangsregierung, die Präsident Assad einschließt, zu konzentrieren“. Gehrke will ein Ringelpietz mit Mördern, Russland und Iran ausdrücklich eingeschlossen, Waffenlieferungen an die Opposition ausdrücklich ausgeschlossen. [8] Und auch Außenminister Steinmeier (SPD) warnt den Westen vor militärischem Engagement: Die Lage im Syrien-Konflikt sei zwar nach wie vor „sehr verfahren“, doch „wir waren noch nie so weit wie jetzt“, denn: Mithilfe Irans gäbe es neue Chancen zu einer Einigung. [9] Man muss schon zivilisationsmüde oder eben gutdeutsch sein, um mit Steinmeier zu hoffen statt dieses Desaster zu fürchten.

Natürlich ist sie völlig unrealistisch: die Forderung nach massiver militärischer Unterstützung der kleinen und verzweifelten prowestlichen syrischen Opposition, nach Waffen und nach Truppen, nach einem Regimechange in Damaskus, nach der Zerschlagung des IS, nach konsequentem Nationbuilding – und das hieße die Implementation eines bürgerlichen, säkularen Rechtsstaates – über Jahre, vielleicht Jahrzehnte. Linke haben sich doch noch nie an unrealistischen Forderungen gestört, warum dann jetzt? Warum vertreten sie gar das genaue Gegenteil und propagieren die gesellschaftlich umstandslos konsensfähige Kollektivmoral eines Herzjesudeutschtums, das Tyrannen und Terrorbanden gleichermaßen freie Schlächterhand lässt?

Weil es logisch ist. Weil man so zum Nutznießer des Sterbens und des Flüchtens wird: Refugees Welcome heißt: Wir sind die Guten. No War heißt: Wir sind die Guten. Politische Prozesse à la Deutschland statt militärisches Eingreifen à la Amerika heißt: Wir sind die Guten! Noch nie konnten „wir“ uns so gut fühlen.

Wer sich aber nicht gut fühlen kann, weil er noch etwas zivilisatorische Restvernunft behauptet, müsste fast verzweifeln: denn Geisel hatte Recht, die „deutschen Seelenwanderungen“ sind vollzogen, wir sehen heute den „Triumph des guten Willens“ in Vollendung. Ja, man müsste verzweifeln, sollte es aber nicht. Diesen Gefallen sollten man denen, die unverkrampft und moralisch aufgeblasen „Wir“ sagen und sich darin nicht stören lassen wollen, nicht tun.


[1] http://polpix.sueddeutsche.com/polopoly_fs/1.979177.1355825701!/httpImage/image.jpg_gen/derivatives/900×600/image.jpg

[2] http://polpix.sueddeutsche.com/polopoly_fs/1.1776994.1410707097!/httpImage/image.jpg_gen/derivatives/860×860/image.jpg

[3] http://bilder.bild.de/fotos-skaliert/gruenen-politikerin-claudia-roth-59-lacht-beim-treffen-mit-dem-iranischen-parlamentspraesidenten-ali-43121473-39504038/3,w%3D650,c%3D0.bild.jpg

[4] https://mut-gegen-rechte-gewalt.de/service

[5] https://www.facebook.com/anetta.kahane/posts/10206529031038016?pnref=story

[6] http://www.nichts-gegen-juden.de/da-stecken-doch-die-zionisten-dahinter/

[7] https://www.facebook.com/anton.hofreiter/posts/986991258031030?hc_location=ufi

[8] http://www.linksfraktion.de/pressemitteilungen/krieg-syrien-muss-endlich-beendet-werden/?rss

[9] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/steinmeier-warnt-vor-interventionen-in-syrien-13793435.html

My Two Eurocents

Beim Thema Griechenland werden auch Zerebralorgane ganz marode, bei denen man bislang ein Mindestmaß an politischer Vernunft annehmen durfte.

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AUF DER EINEN SEITE sind da jene Antideutschen und Ideologiekritiker, die inzwischen nichts mehr von theoretischer Reflexion zu verstehen scheinen (wie überhaupt oft Kritische Theorie von Marx bis Adorno zum postmodernen Zitatenschatz eingedampft wurde), jene also, die das Elend der (zuvörderst deutschen) Austeritätspolitik nicht mehr als Elend unzähliger Individuen interpretieren, und die kaum mehr anders klingen als die Herrschaften (die Damen eingeschlossen) von WELT bis FAZ.

Die in diesen Kreisen gar gelegentlich geäußerte realpolitische Hoffnung, die Griechen mögen alsbald „richtige neoliberale Parteien“ wählen, ist – abseits der Frage, was parteipolitischer Neoliberalismus im (süd)europäischen Kontext bedeuten würde und ob es solche Parteien in Griechenland überhaupt gäbe –, nur ein paar Sozialleistungskürzungen weitergedacht, von erschreckender Empathielosigkeit. Die Kritik an der real existierenden, antimodernen und antiliberalen Linken, die mit höchstem Recht auch bei Syriza und Konsorten ansetzen muss, wendet sich de facto in eine Parteinahme für ein System, das alltäglich unfassbare Armut für unfassbar Viele bedeutet. Früher hatte man noch einen elaborierten Begriff von diesem System, aber bei aller regressiven Kapitalismuskritik will man selbst lieber nicht mehr kritisch vom Kapitalismus reden – ganz im Gegenteil.

Und doch ist es eben dieses kapitalistische System, das gerade neue Verelendung, und mit der Armut auch politischen Wahn produziert. Der populistische Linksradikalismus von Syriza ist da vielleicht nur ein lächerliches Vorspiel zu dem Irrsinn, der noch kommen könnte. Natürlich stehen materielles und geistiges Elend mitnichten in einem einfachen Ableitungszusammenhang, doch mit Blick auf die Dialektik von Sein und Bewusstsein verbietet es sich gerade nicht, wie von dieser Fraktion ebenso schon angemahnt wurde, materielles und geistiges Elend in einem Atemzug zu nennen. Im übrigen gab es auch dafür bereits einmal einen Begriff: den der Politischen Ökonomie. Es scheint also geboten, an derlei Basisbanalitäten noch einmal zu erinnern.

Es sei ausdrücklich dazugesagt: wahrlich nicht alle Antideutschen und Ideologiekritiker haben sich derartig ins anti-linke, reflexhafte Kapitalismus-Liebhaben verrannt, doch gibt es in dieser wie in jeder Schublade Messer, die nicht besonders scharf sind.

AUF DER ANDEREN SEITE sind da jene, die gegen „antideutsche Reinheitsgebote“ wettern und in Griechenland die Morgenröte eines neuen Antikapitalismus zu wittern scheinen. Hierfür steht der Gastbeitrag „Griechenland und antideutsche Reinheitsgebote“ von Bernhard Torsch im Jungleblog stellvertretend [1]. Wohlwollend wird da über den nationalistischen Grundton von Syriza hinweggesehen, weil der ja nicht völkisch sei, über die Koalition mit rechten Demagogen, weil diese ja nicht gleich eine NPD seien, über deren Antisemitismus, weil dieser ja gar keiner sei, sondern nur „doof“.

Aus der Rage gegen „antideutsche Reinheitsgebote“ spricht derweil das schiere Gegenteil: Wegsehen, Nichtwahrhabenwollen, Schönreden. Das ist der zu zahlende Preis für die Rückkehr in den linken Konsens. Dabei ist Syriza eben keine ganz gewöhnliche sozialdemokratische Partei, wie gern behauptet wird, sondern die erste linke Partei neuen, postmodernen Typs, die eine europäische Regierung stellt. (Wenn deren linksradikaler Populismus in einer Sackgasse endet, erst dann wird eine Sozialdemokratisierung erwogen: als Exit-Strategie.) Syriza macht also zunächst auf reichlich Krawall und Demagogie, poltert und droht, um schließlich den Kapitalismus per Referendum in die Knie zwingen zu wollen. Das ist so albern wie gefährlich, weil eben nicht eine reale Alternative zu materiellem und geistigem Elend begründet wird, sondern diese Verelendung de facto sogar angeheizt wird. Das ganze testosteroninduzierte Spiel von Tsipras und Varoufakis hat zudem paternalistische Züge: Hier die linken Tribunen mit den offenen Hemden, die Brüssel ebenso einheizen wie sie den gemeinen Pöbel aufhetzen. Dort eben jener griechische Pöbel, der die Rechnung bezahlen darf, aber nicht mehr kann, und darum, ganz buchstäblich, zugrunde zu gehen und an den Verhältnissen irre zu werden droht. Wer einen Demagogenhaufen wie Syriza ernsthaft salviert und Hoffnung in seine Politik weckt, der nimmt eben nicht Partei für die Elenden, sondern verrät diese.

Vollends wirr wird es bei Bernhard Torsch, wenn die Bedrohung Griechenlands mit der Bedrohung Israels in Verbindung gebracht wird, wohl als Köder für antideutsche Israelfreunde, sich nun auch – weil die Austeritätspolitik ja zuvörderst eine deutsche ist – für Griechenland und insbesondere für Syriza stark zu machen. Dazu nur zwei Hinweise. Zum einen betreibt Deutschland hier weniger eine spezifisch deutsche Politik als eine Politik ganz banaler kapitalistischer (Staats-)Logik von Gläubiger und Schuldner (mit allem machtpolitischen Kollateralnutzen); das alles ist also noch keine spezifisch deutsche Ideologie. Zum anderen hinkt der Vergleich zwischen Israel und Griechenland nicht nur, ihm fehlt ein ganzes Bein. Argumentiert man auf der Ebene, dass hier wie dort Leib und Leben bedroht seien, so kann man gleich bei Margrot Käßmann anklopfen, und übrigens ging’s Opi vor Stalingrad ja auch nicht so gut (Stichwort: Gefahr für Leib und Leben). Das, mit Verlaub, ist Kirchentagsgeschwätz, aber nicht politisches Denken. Gegen Griechenland arbeitet die ganz normale (und das heißt für die Armen: auch mörderische) kapitalistische Logik. Gegen Israel dagegen arbeitet der blanke Wahn; und dass dem Antisemitismus die völlige Sinnlosigkeit – d.h. nach allen Kriterien, auch und gerade nach ökonomischen – eigen ist, dass genau diese Sinnlosigkeit das Singuläre des Antisemitismus ist, das hat schon Hannah Arendt beschrieben (und Eike Geisel ins Deutsche übersetzt) [2]. Insofern ist die Analogie zwischen Griechenland und Israel bestenfalls einem moralischen Empörtsein geschuldet, nicht aber einem politischen Denken.

Überhaupt scheint Bernhard Torsch, darin (wieder) ein „guter“ Linker, keinen Begriff (mehr) vom Antisemitismus zu haben [3]. Man müsste ihm jetzt sogar erklären, dass hinter der „Israelkritik“ gerade nicht, wie von ihm behauptet, die Anerkennung des Existenzrechts Israels steht, sondern der postmodern kodifizierte Antisemitismus, oder – mit Améry – dass sich hinter der „ehrbaren“ Israelkritik ein „ehrloser“ linker Antisemitismus wie „das Gewitter in der Wolke“ versteckt. Doch wem man dass noch erklären muss, dem braucht man eigentlich nichts mehr zu erklären.

KURZUM: Sich weder von der Logik des neuesten Kapitalismus dumm machen zu lassen, noch sich blind zu machen für das Grauen des realen Antikapitalismus auch in seiner griechischen Ausprägung, das ist nicht Äquidistanz. Sondern das ist die Bedingung der Möglichkeit für politische Reflexion und Urteilsfähigkeit, mithin die einzige Möglichkeit wirklicher Empathie für die Menschen als Subjekte: als erniedrigte, geknechtete, verlassene, verächtliche Wesen, die nicht um ihre wahre Hoffnung betrogen werden dürfen, indem man ihnen eine falsche vormacht.


[1] http://jungle-world.com/jungleblog/3313/

[2] u.a. in Hannah Arendts Text „Die Vollendete Sinnlosigkeit“ in: Hannah Arendt: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare. Herausgegeben von Eike Geisel und Klaus Bittermann, Edition Tiamat, 2. Auflage, Berlin 2014

[3] Auf Facebook redet sich Bernhard Torsch ganz um Kopf und Kragen: „Service für die simpel gestrickten Schwarzweißgehirne: ‚Israelkritik‘ bedeutet in aller Regel, den Staat Israel für dieses oder jenes zu kritisieren, aber sein Existenzrecht anzuerkennen. Antizionismus stellt das Existenzrecht Israels in Frage. Rassenantisemitismus bzw. (auch religiös motivierter) Vernichtungsantisemitismus ist nochmal eine Eskalationsstufe. Das mag man alles ekelhaft finden, aber es ist nicht alles dieselbe Suppe. Darauf darf, nein muss man hinweisen, wenn das differenzierte Denken aus der Mode kommt. Und zum Israel-Vergleich: der hinkt nur dann, wenn man kapitalistische Logik und Moral so verinnerlicht hat, dass man Toten, die ein Wirtschaftskrieg fordert, die Schuld an ihrem Sterben selber zuweist und daher Griechinnen der Solidarität für weniger wert hält als Israelis.“


Nachtrag:

Da sich von der Kritik im ersten Teil des Textes, der zuerst auf Facebook erschien, der Wiener Autor Dieter Sturm angesprochen fühlte (er war durchaus gemeint, aber doch nicht allein), so sei (mit erfolgter Einwilligung) seine Replik hier beigefügt:

Da hier einige von mir getätigte Äußerungen kritisiert werden: „Neoliberalismus“ ist in dem Zusammenhang, um den es hier geht, nichts anderes als ein so leeres und dümmliches wie ekelhaftes Schlagwort, das kaum etwas über sozioökonomische Zusammenhänge aussagt, aber umso mehr als mittlerweile universales Kennwort zur gemeinschaftsstiftenden, politische Lager übergreifenden Versicherung und Befeuerung antiliberaler Ressentiments dient – gerade wegen seiner Schwammigkeit ist es bestens dazu geeignet. Wenn ich sage, dass ich es erfreulich finden würde, wenn Griechen neoliberale Parteien wählen, dann ging es mir vor allem darum, diese Projektion des „Neoliberalismus“ positiv zu wenden (in der gleichen Manier, in der unter Antideutschen ja auch „Volkstod“, „Zersetzung“ etc. also all das, was die Volksgenossen befürchten, oder Elsässers berühmte Rede von den „Teheraner Drogenjunkies“ positiv gewendet wird). Anders gesagt: Die Griechen sollten, wenn sie denn die Möglichkeit haben, doch Parteien wählen, die dem Wahn von SYRIZA/Anel/Chrysi Avgi widersprechen und eben in diesem Sinne „neoliberal“ sind, eben weil das „kapitalistische System“ nicht „mit der Armut auch politischen Wahn produziert“, wie Du hier schon wieder in schlecht materialistischer Manier behauptest. Überhaupt scheint mir, dass Du Dich in diesem Kommentar, mit Verlaub, allzu sehr um so etwas wie die Formulierung einer ideologiekritischen Correctness bemühst, in der – am Beispiel von Griechenland – alles, was „wir“ über das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum, Kapitalismus und Antikapitalismus, Unfreiheit und Freiheit von unser aller Klassikern „gelernt haben“, (anspielungsreich) zusammengezwungen werden soll. Man kann aber nicht einerseits den Müll, den der Torsch verzapft, völlig zu Recht in der Luft zerreißen und andererseits – unter Berufung auf die Kritik der politischen Ökonomie – diesem unsäglichen Elends-Nazifizierungs-Determinismus (der ominösen „Dialektik von Sein und Bewusstsein“) Konzessionen machen. Und das tust Du, da hilft auch das Relativieren und Differenzieren nicht, im Gegenteil. Ich bezweifle übrigens auch, ob man gegenwärtig dem Anspruch, die Menschen in Griechenland und anderswo als Subjekte ernst zu nehmen, wirklich gerecht wird, indem man darauf verweist, dass sie doch im Grunde „erniedrigte, geknechtete, verlassene, verächtliche Wesen“ sind. Auch diese Formulierung hat einen Zeitkern. In Zeiten, in denen Opferkonkurrenz und Instrumentalisierung des Leidens politisch hoch im Kurs stehen, halte ich sie jedenfalls für zunehmend zweifelhaft.

Was gesagt werden musste

Günter Grass ist tot. Kein schlechtes Wort über Tote, heißt es. Also tue ich das, was er selbst seit je hätte tun sollen: schweigen.

Dieses Schweigen ist legitim, weil ja vieles schon gesagt wurde, und an einigem war ich selbst beteiligt.

So erschien in der Bahamas ein Text über „unseren“ Nobelpreisträger, noch bevor dieser sich ans Zwiebelhäuten machte. Kurz darauf gab es dann die Gelegenheit, den großartigen Yoram Kaniuk in einem Interview zu seinem fürchterlichen  Schriftstellerkollegen zu befragen. Und schließlich hieß es bei Grass nur noch „Weißnichtwo, weißnichtwie, weißnichtwann“, und dieser idealdeutschen Form der Aufarbeitung der Vergangenheit widmete sich ein Text in dem Sammelband „Deutschlandwunder„.

Als Grass seine letzten schlechte Reime verbrach, in denen er sich noch einmal als der neue alte Antisemit offenbarte, da gab es eher sachliche und eher unsachliche, dafür gereimte Kritik.

Das alles hätte ich gern verdrängt. Aber heute ist alles wieder taghell im Bewusstsein. Aus eben diesem Grund: Das ist kein guter Tag.

Je ne suis pas Juif

Über islamistischen Terror, kulturalistische Volksgemeinschaftlichtkeit und rassistischen Rechtspopulismus

[PDF]

Frédéric Boisseau. Philippe Braham. Franck Brinsolaro. Jean Cabut. Elsa Cayat. Stéphane Charbonnier. Yohan Cohen. Yoav Hattab. Philippe Honoré. Clarissa Jean-Philippe. Bernard Maris. Ahmed Merabet. Mustapha Ourrad. Michel Renaud. François-Michel Saada. Bernard Verlhac. Georges Wolinski.

Sie sind die Opfer der islamistischen Terroristen in Paris vom 7. und 9. Januar 2015. Die Mörder suchten sich diese Menschen gezielt aus. Ihr Angriff galt nicht einer abstrakten Meinungsfreiheit, sondern Satirikern, die sich das Recht auf polemische Islamkritik nicht nehmen ließen. Er galt nicht einem Polizisten, weil er Muslim war, sondern weil dieser die Verteidigung der französischen Republik – und das heißt eben auch des Rechts auf diese Islamkritik – zu seinem Beruf machte. Er galt nicht irgendeinem Supermarkt und irgendwelchen Supermarktbesuchern, sondern explizit Juden, und zwar aus dem einzigen Grund, dass sie Juden waren.

Siebzehn Menschen wurden ermordet, und jeder einzelne stand auf seine Weise für das Beste der laizistischen Republik, für das Beste des Westens überhaupt: für Aufklärung, Kritik, Polemik, für den Mut, gegen die Barbarei zu kämpfen. Und sechs der Ermordeten waren Juden – seit jeher das erste Ziel des projektiven Hasses aller Antiwestler, ob rechts, ob links, ob islamisch.

Die Sehnsucht eines Barbaren

Am Morgen des Tages, an dem der Terror im Namen des Islam in Paris begann, stand in der Süddeutschen Zeitung zu lesen: »Wenn es ein Abendland gäbe, das gegen den Islam oder wen auch immer verteidigt werden müsste, worin bestünde es gegenwärtig? In einer Meinungsfreiheit, die ihren Gipfel darin erreicht, dass im Fernsehen in eigens dafür eingerichteten Gesprächsrunden arrangierte Kontroversen unter professionellen Meinungsbesitzern geführt werden? In einer Kultur des Wettbewerbs, die davon absieht, dass alle Konkurrenz weitaus mehr Verlierer als Gewinner hervorbringt? In einer Ideologie der Liebe, die glaubt, das höchste Glück auf Erden zu vertreten, aber vor allem Enttäuschung entstehen lässt, um von den vielen Gewalttaten zu schweigen, die aus dem Idealismus des Privaten hervorgehen? In der Verwahrlosung ganzer Völkerschaften, in Arbeitslosigkeit und Kriminalität, in kleinen Bürgerkriegen an den Rändern der europäischen Metropolen – und in einem erstaunlichen Frieden, in dem alle Menschen noch von ihrer Arbeit leben können, während um sie herum die halbe Welt auf Flucht und Wanderschaft ist?« [1]

Das war kein Exzerpt aus einem vorab veröffentlichten Bekennerschreiben, keine Überlegung eines Vordenkers von IS oder Al-Qaida, von Hamas oder Hisbollah, kein Statement eines salafistischen Predigers aus Bergheim bei Köln oder eines schiitischen Geistlichen aus Teheran. Die aufgeworfenen und natürlich rhetorisch gemeinten Fragen sind Ausdruck des genuin antiwestlichen Selbsthasses im Westen. Denn es gibt sie zweifelsohne: die vorfreudige Unterwerfung unter den Islam, der nur kommen möge, das Hiesige hinwegzufegen, da im Hier und Jetzt doch alles schlecht und verworfen ist. Und Thomas Steinfeld, Feuilletonist der Süddeutschen Zeitung und also selbst »professioneller Meinungsbesitzer«, ist einer ihrer Propagandisten.

Auch wenn Steinfeld es Abendland nennt, was er da beschreibt und angreift, so ist es mitnichten das, was die Dresdner Wutbürger zu verteidigen meinen. Denn in Deutschlands deutschester Stadt sieht man mangelnde Meinungsfreiheit, sieht man Konkurrenz, Arbeitslosigkeit und Kriminalität, sieht man Flucht und Wanderschaft kaum mit geringerer Sorge als in Münchens Zeitungsredaktion, wenngleich der politische Reflex ein anderer ist. Was Steinfeld angreift, ist vielmehr das auf Globalisierung und Universalisierung abzielende liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, es sind seine kaum zu leugnenden Verwerfungen, rhetorisch zugespitzt zu einem Elend, das – Steinfeld muss das nicht einmal mehr explizit machen – umstandslos abgeschafft gehört, by any means necessary. Am Westen, der keine Himmelsrichtungen mehr kennen will, soll das Falsche dadurch beseitigt werden, indem er als Falsches in toto beseitigt wird, und sei es durch ein anderes Falsches, gar durch ein unfassbares Grauen. Hier trifft die alte antiwestliche Sehnsucht nach der Tabula rasa, der wagnersche Tonfall zum erlösenden Ende hin, auf den real existierenden Islam. Ein wenig Augenzwinkerei mag bei postmodernen Figuren wie Steinfeld einzurechnen sein, was nicht bedeutet, dass sie es minder ernst meinten.

Wie Stephan Grigat einmal einer dümmlichen Linken beim selektiven Adornozitieren ins Wort fiel – »Es heißt: Dialektik der Aufklärung, nicht: Scheiß Aufklärung!« –, so wäre, da das Glücksversprechen des Liberalismus nicht eingelöst wurde, eben dieses als seine Wahrheit durch die gegenwärtigen Verhältnisse hindurch zu retten, weil darin doch das Bessere wenigstens aufscheint: die Sehnsucht nach Freiheit – nicht nur der Meinung –, nach ökonomischem Gewinn, um materielle Not aus der Welt zu schaffen, nach Liebe und Privatheit, mithin nach einem Ich, das aus seiner Stärke heraus sich überhaupt erst frei für ein Wir entscheiden kann.

All das ist Steinfelds Sache nicht. Er nimmt die Verwerfungen der liberalen Gesellschaft zum Anlass, ihrem militantesten Gegner das Feld zu bereiten. Diese reflexhafte Gegenparteinahme macht sich dabei absichtsvoll blind für das, was mit dieser Gegenpartei droht; sie ist Rage gegen das vermeintliche Hauptübel. Der da so kritisch sich gebiert, betreibt nicht Kritik in einem ernsten Sinn, sondern das Geschäft der Gegenaufklärung, weil nicht mehr auf ein Besseres gezielt wird, weil der einstige Traum der liberalen Epoche längst verraten wurde und nicht mehr auf ein Erwachen hin zur Wirklichkeit drängt. Steinfeld hatte in einem anderen Text bereits einmal gefordert, der Westen solle sich klar machen, »wie totalitär selbst seine Glücksideale – die Liebe, die sexuelle zumal, das souveräne Ich, der materielle Erfolg – sein können«. [2] So also wird der Traum zum Albtraum entstellt: Liebe wird als Ideologie denunziert, Privatheit als gewalttätiger Idealismus. Vor Islam und Umma muss sich ein Steinfeld nicht fürchten – im Gegenteil.

Eine hohle Geste

An eben jenem Tag, an dem der Text des »professionelle Meinungsbesitzer« Thomas Steinfeld, in dem nicht zuletzt die Meinungsfreiheit des Westens denunziert und der Islam salviert wurde, in der Süddeutschen Zeitung erschien, fand in Paris unter den Rufen »Allahu akbar!« der Angriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo statt, eines der vornehmsten Flaggschiffe dieser Meinungsfreiheit; zwölf Menschen wurden, um Mohammed zu rächen, dort ermordet.

Seitdem heißt es »Je suis Charlie«, und es gibt viele Menschen mit tiefer Empathie, die um die Opfer trauern, im Bewusstsein des großen Mutes der Journalisten und Karikaturisten, die nicht weniger waren als Helden. Es war ausgerechnet Kai Diekmann, der BILD-Chef, die Hassfigur vieler, die sich als besonders liberal und aufgeklärt dünken, der die treffendsten Worte gegen den Terror von Paris fand: »Das Einzige, was wir dagegen tun können, ist, furchtlos so zu leben, wie wir leben. Schreiben, was wir schreiben wollen. Zeichnen, malen, dichten, aussprechen, wonach uns der Sinn steht. Der Preis dafür kann in einer Welt des Terrors immer das Leben sein, das müssen wir stets wissen. Aber wenn wir nicht bereit sind, ihn zu zahlen, sind wir auch nicht frei. Unsere Kollegen in Paris haben diesen höchsten Preis der Freiheit gezahlt. Wir verneigen uns vor ihnen.« [3]

Demgegenüber bleibt bei anderen die Behauptung »Je suis Charlie« nur eine hohle Geste. Gemeint sind jene, die gleich schon im nächsten Augenblick nicht mehr von den Opfern des Massakers sprechen, sondern vor »Islamophobie« und Rassismus warnen, jene, die Meinungsfreiheit als etwas sehen, mit dem vor allem »verantwortungsbewusst« umgegangen werden müsse, Zeitungsmacher bis hin zur New York Times also, die keine Mohammed-Karikaturen abdrucken wollen, um nicht »religiöse Gefühle« zu beleidigen, jene, die schon bei den Zeichnungen in Jyllands Posten 2005 eine Grenze überschritten sahen, jene Islamverbandsvertreter beispielsweise, die auf ihre pflichtschuldige Verurteilung des Terrors ein »Aber« folgen lassen. Nur: »Es gibt kein Aber«, wie Deniz Yüzel völlig richtig in der taz schrieb: »Ich wünsche jedem islamischen Vorbeter und seinem Nachbeter, der der Verurteilung des Mordes ein ›Aber‹ hinterherschiebt, lebenslang Dresden an den Hals.« [4]

Das freie Wort (mit Einschränkungen)

Natürlich macht es einen gewissen Unterschied, ob Islamfunktionäre wie Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, die Morde öffentlich verurteilen oder nicht. Das aber kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eben dieser Mazyek mitnichten dafür einsteht, dass Filme, Schriften oder Zeichnungen, durch die sich ein Muslim beleidigt sehen könnte, ungehindert erscheinen dürfen. Im Gegenteil [5]: »Moderat« ist nur das von ihm gewünschte Mittel gegen die Beleidigung des Propheten, er will »Islamophobie« und »islamfeindlichen Rassismus« als Straftatbestand gewertet sehen. Mazyeks wiederholtes Bemühen, Islamkritik umstandslos als Rechtsextremismus zu diffamieren und darüber hinaus medienwirksam zu befürchten, »dass Gegenreaktionen muslimischer Fanatiker nicht ausbleiben werden – sozusagen die Kehrseite derselben Medaille«, kann dabei durchaus als Drohung an den deutschen Staat interpretiert werden, seinem Wunsch nach juristischer Einschränkung der Meinungsfreiheit nur ja zu entsprechen, da die Alternative terroristisch wäre, eine logische, fast zwingende Konsequenz [6]. Das heißt: Mazyek ist – wie wohl die meisten seiner Glaubensbrüder und -schwestern hierzulande – mitnichten bereit, die Beleidigung seines Propheten als legale und legitime öffentliche Position zu erdulden, er steht keineswegs für wirkliche Meinungsfreiheit ein, er will sie vielmehr einschränken. Und eben da kommt ihm sein Heimatland, Deutschland, schon jetzt weit entgegen.

Das freie Wort und die Pressefreiheit, wie sie auch nach dem Pariser Massaker bundespräsidial wieder beschworen werden [7], sind nämlich hierzulande nur pro forma hohe Güter. Das Strafgesetzbuch verbietet jetzt schon die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen, wenn sie geeignet ist, den »öffentlichen Frieden« zu stören. Und dieser öffentliche Frieden ist heutzutage ausschließlich bei der »Friedensreligion« Islam, also bei zum militanten Beleidigtsein neigenden Muslimen, schnell perdu; hier hat auch Mazyeks oben erwähnte Drohung seine Funktion.

Überhaupt wird Meinungsfreiheit dort juristisch eingeschränkt, wo sich jemand ernstlich beleidigt fühlen könnte; sogenannte Schmähkritik steht unter Strafe, und im Ergebnis wird es zunehmend schwierig, bei der Wahrheit zu bleiben, wenn beispielsweise ein Antisemit nicht mehr Antisemit genannt werden darf, wie überhaupt das deutsche Recht politische Auseinandersetzungen gerne auf die persönliche Ebene verlagert und vor Gericht geklärt sehen möchte. Eine passende Antwort auf das Massaker von Paris wäre hierzulande die Stärkung der Meinungsfreiheit qua Abschaffung all dieser unsäglichen Gesetze. Es wäre freilich naiv, ein solches Maß an politischer Liberalisierung diesem Land ernstlich zuzutrauen.

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner betreibt nur restliberale Kosmetik, wenn er nun den Blasphemieparagrafen abzuschaffen fordert, da er doch sogleich beteuert, es nicht ganz so ernst zu meinen, denn Gläubige stünden ja trotzdem nicht ohne jeden juristischen Schutz da: »Die Tatbestände der Volksverhetzung und der Beleidigung blieben von einer Abschaffung des §166 StGB unberührt«, wie überhaupt sein Vorstoß ja nicht heiße, »dass die FDP religiöses Empfinden nicht respektiere« [8]. Doch nicht einmal zu dieser symbolischen Aktion wird es kommen. Union und SPD lehnen sie ab, Wolfgang Bosbach, CDU, dem sonst fast jedes Mittel gegen Islamisten recht zu sein scheint, ist »ausdrücklich nicht der Auffassung, dass es sinnvoll und ein Zeichen der Solidarität zu Frankreich wäre, wenn wir in Deutschland jetzt den Paragrafen 166 StGB komplett abschaffen oder ›nur‹ zur Disposition stellen würden«. Der »Schutzzweck der Norm« sei »nach wie vor sinnvoll«. Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner, sekundiert, denn »gerade nach den schrecklichen Morden in Paris« sehe er »keinen Anlass dafür, den strafrechtlichen Schutz von Religionsgemeinschaften zu reduzieren durch die Abschaffung des Paragrafen 166 StGB« [9]. Das ist deutsche Logik: Gerade nach den Morden sei die Meinungsfreiheit nicht zu stärken, weil das ein uneingeschränktes Recht auf Blasphemie bedeuten würde. Für die Unterbindung der Religionskritik ist und bleibt hierzulande das deutsche Strafrecht zuständig. Dieses könnte sogar noch verschärft werden. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Stephan Mayer (CSU), ist der Ansicht: »Eher sollte über die Anhebung des Strafrahmens gesprochen werden als über eine Abschaffung des Paragrafen 166 Strafgesetzbuch.« [10]

Vor diesem Hintergrund wird auch klarer, was Bekir Alboga, Sekretär der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB), meint, wenn er bezüglich der Mörder von Paris von »Selbstjustiz« spricht, weil sie kein »Mandat« gehabt hätten: »Wir haben so einen Auftrag nicht erteilt.« Nicht das ursprüngliche Anliegen der Täter, sondern deren eigenmächtiges Handeln wird angeprangert, es gibt also keinen Dissens in der Sache, sondern nur einen in der Befehlskette. In der Sache sind schließlich auch Alboga die islamkritischen Karikaturen ein Dorn im Auge: »Aber zählen die Gefühle der Muslime nicht? Gibt es auch nicht für die Muslime Werte, die man mit Respekt behandeln sollte? Wollen wir nicht einen Weltfrieden? Wollen wir nicht friedlich zusammenleben? Müssen wir uns ständig gegenseitig provozieren?« [11] Da ist sie wieder: die Drohung. Denn ob der Blasphemieparagraf greift, entscheidet – Stichwort: Gefährdung des »öffentlichen Friedens« – allein die zu befürchtende Reaktion der möglicherweise Beleidigten mit ihren militanten religiösen Gefühlen. Wurden gerade erst in Frankreich Blasphemiker im Namen Allahs ermordet, so wird in Reaktion darauf hierzulande die Meinungsfreiheit nicht gestärkt, sondern weiter in Frage gestellt. Doch diese Meinungsfreiheit kann nicht abstrakt gelten, sondern muss sich auch konkret im Recht auf die Lächerlichmachung einer nicht zuletzt in ihrer Gewaltsamkeit grotesken Religion beweisen. In diesem illiberalen Strafrecht, das de facto Islamkritiker zu Tätern und Muslime zu ihren Opfer erklärt, scheint schon die muslimische Variante der Täter-Opfer-Verkehrung auf. Zumindest aber ist es mit ihr kompatibel.

Die befriedete Gesellschaft

Überhaupt war fast die gesamte öffentliche Debatte in Deutschland bereits am zweiten Tag nach dem Massaker gegen die Blasphemiker von Charlie Hebdo zu einer um den Islam und die Muslime als vermeintliche Opfer gedreht worden. Ali Kızılkaya etwa, Vorsitzender des Islamrates, behauptete auf einer Pressekonferenz der Islamverbände, die Tat sei ein »Akt gegen die Religion«. [12]

Diese Wahrnehmungsverschiebung von durch Muslime Ermordeten zu Muslimen als Opfer – und zwar bereits zu einem Zeitpunkt, da die Terroristen von Paris noch nicht einmal gefasst waren und noch weiter morden konnten – war nicht allein ein propagandistischer Erfolg für die hiesigen Islamverbände. Die vorgebliche Trauer um die Opfer und das Mitgefühl für die Angehörigen entlarvte sich auch bei nichtmuslimischen Protagonisten aus Politik und Medien schon binnen Tagesfrist als Phrase: Die Mörder waren noch nicht gefunden, da verschwanden schon die Ermordeten aus dem Blick, und in den Vordergrund trat die paternalistische Sorge um die Muslime, genauer: die Sorge um den Islam. Die Terroristen seien gar keine Muslime gewesen, glaubte Thomas Oppermann, der Chef der SPD-Bundestagsfraktion, verkünden zu können; das sei sogar ein Anschlag auf den Islam gewesen, sekundierte ihm Bundesjustizminister Heiko Maas [13]. Fast scheint es, als säßen Augstein, Todenhöfer und andere große Islamgelehrte am Kabinettstisch.

Dieses Unterfangen aber ist durchsichtig: Jeder drohende gesellschaftliche Zwist soll im Keim erstickt werden – auch wenn es die Lebensversicherung einer wirklich freien Gesellschaft wäre, ihn politisch auszutragen. Nicht die freie, sondern eine befriedete Gesellschaft ist das Ziel dieser Herren. Um jeden religiösen, kulturellen und politischen Konflikt umgehend einzuebnen, pastorte daher auch der Bundespräsident: »Wir lassen uns durch Hass nicht spalten!« [14] Und Sigmar Gabriel setzte ganz auf das Wir-Deutschland und fordert eine »kollektive Aktion gegen Hass, Intoleranz und Gewalt«: »Der perfide Plan von Terroristen, einen Keil in unsere Gesellschaft zu treiben, darf nicht aufgehen. Genauso wenig wie der Versuch, diese grausamen Taten nun als Bestätigung von Ressentiments etwa gegenüber Flüchtlingen oder gegenüber dem Islam zu missbrauchen.« [15]

Deutschland will sich also, wie Gauck sagte, nicht spalten lassen. Und das heißt in der Konsequenz: Es will dem Kulturkampf – genauer: dem Kampf für die Zivilisation – aus dem Wege gehen, hat man hierzulande doch mit sich und dem Islam längst seinen Frieden gemacht, nur »Einzeltäter« und »Extremisten« exklusive. Ansonsten gilt: Die Augen und die Reihen fest geschlossen; das ist seit jeher das deutsche Modell. Das alles ist in seiner Vorhersehbarkeit, in seiner grotesken Illiberalität und in seiner multikulturell aufgepeppten Volksgemeinschaftlichkeit so unfassbar degoutant und zugleich von epochemachender Relevanz.

Einfühlung und Totalität

Doch »Quel malheur!«, das postnazistische Erfolgsmodell der Wiedergutwerdung der Deutschen wird seit einiger Zeit von Dresdner Wutbürgern, »liberalen« Euroskeptikern und anderen deutschen Patrioten in Frage gestellt. Sie protestieren gegen »Lügenpresse«, »Volksverräter« und »Überfremdung«, gegen »Asylindustrie« und »Islamisierung«. [16] Das tönt unschön und schafft schlechte Auslandspresse. Gab es bisher noch keine dauerhaft erfolgreiche rechtspopulistische Bewegung oder Partei, so könnte das jetzt anders werden, und darum reagiert das politische und kulturelle Establishment äußerst irritiert und nervös auf AfD, »Pegida« und andere Abendländler, ja, es befürchtet, das Massaker von Paris könnte Wasser auf deren Mühlen sein.

Die antideutsche Hauspostille Bahamas gibt derweil Entwarnung und erkennt in »Pegida« nur ein protestierendes Spektrum, das den »Islam als Religion« angreift – von Rassismus kein Wort. Zudem sei »der sozialkonservative Demonstrant« dort auch »nicht antisemitischer als 95 Prozent der restlichen Bevölkerung«. Die Redaktion warnt darum auch »die Antifa« vor der Versuchung, »aus Pegida einen bequemen und wohlfeilen Nazi-Popanz zu basteln« [17]. Auf der Achse des Guten wird unterdessen in derben Worten gegen den neuerlichen »Aufstand der Anständigen« Stimmung gemacht, also gegen – so der Jargon dort – die »Domlichtausknipser, die Mischpoke-Plärrer und natürlich die Nazijäger« [18]. Henryk M. Broder schließlich sieht in »Pegida« gar Demokratie als »work in progress« und wendet sich gegen jene, die da mit ihrer Kritik und ihren Gegendemonstrationen »ein Festival des Wahnsinns« veranstalteten, »dessen Protagonisten keine wildgewordenen Kleinbürger, keine Nationalisten und keine Rassisten sind, schon gar nicht Nazis in Nadelstreifen, sondern seriöse und staatstragende Politiker«. Dagegen seien die »Menschen da draußen im Lande […] nicht dumm«, sie hätten vielmehr »ein Gespür für das Falsche, Pathetische, Verlogene«; es sei eben dieses nur vermeintlich dumme Volk, »das stumm gegen seine Entmachtung demonstriert« [19]. Soviel Einfühlung in die Deutschesten der Deutschen war selten in diesen Kreisen.

Um einen Vergleich redlich hinken zu lassen: Auch das ist eine reflexhafte Gegenparteinahme, die sich blind macht, die sich dumm macht, die gegen das Falsche – implizit oder explizit – Partei nimmt für ein anderes Falsches. Die Kritik verrät überall dort ihre aufklärerische Intention und ist damit am Ende, wo man in derartigen gesellschaftlichen Konstellationen – islamistischer Terror, kulturalistische Volksgemeinschaftlichtkeit, rassistischer Rechtspopulismus – ernsthaft das eine bekämpfen will, indem das andere beschwiegen, schöngeredet oder gar legitimiert wird.

Es gibt aber mehr als ein politisches Elend, keines kann man gegen das andere aufrechnen. Eines zu benennen, ohne das andere zu verschweigen, bedeutet auch nicht, die Relationen zu vergessen oder gar irgendetwas zu relativieren, sondern es heißt, die gesellschaftliche Totalität zu erfassen. Keine dieser widerlichen und nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Erscheinungen ist in den anderen ursächlich begründet, aber alle sind sie aufeinander bezogen, sie korrespondieren, gehören zusammen. Diese gesellschaftlichen Zumutungen sind gegeneinander und miteinander zugleich zu denken.

Wahlvölkischer Rassismus

Das sei an nur einem Beispiel ausgeführt: Weil der Opferstatus Gemeinschaft stiftet, behaupten »Pegida«- und AfD-Anhänger, sie würden allzu oft und natürlich zu Unrecht von etablierter Politik und »Lügenpresse« als Rassisten denunziert. Das ist Unsinn, aber nur in dem Sinne, dass die meisten Politiker und Medienleute ja redlich versuchen – mit welchen rhetorischen Verrenkungen auch immer –, bei aller Ächtung von »Pegida« und AfD die teilnehmenden »Bürger« mit ihren »berechtigten Sorgen« durchaus ernst zu nehmen und also wieder in den postnazistischen Konsens zu integrieren. [20] Ebenso unsinnig ist es, nicht den Rassismus der neuesten Wutbürger zu erkennen. Es gleicht fast schon einer Zumutung, die Basisbanalität überhaupt noch aussprechen zu müssen, dass es den »Pegida«-Demonstranten nicht um eine Kritik des »Islam als Religion« geht. Diese deutschen Patrioten, die ihre christlichen Weihnachtslieder vom Papier ablesen müssen, um sie in die Dresdner Dezemberluft zu sächseln, mögen praktisch lausige Christenmenschen sein, sie sind aber alles andere als Religionskritiker. Sie verachten den Islam vor allem, weil sie Muslime verachten, und diese heißen für sie Ali und Mahmud. Ihre »Islamkritik« wird als Rassismus kenntlich, wenn sie nämlich konkret eine »gesteuerte Zuwanderung« und eine »konsequente Abschiebepolitik« fordern. »Sachsen bleibt Deutsch« [21] ist die regionale Variante von »Deutschland den Deutschen«, und all das bedeutet nichts anderes als: »Ausländer raus!«

Genau damit sind sie gesellschaftlich durchaus integrationsfähig, wenngleich rhetorisch arg ungeschickt. Die bundesdeutsche Flüchtlings- und also Antiflüchtlingspolitik brauchte seit je unverfänglichere Termini, um sich als moralisch unverfänglich auszuweisen, während de facto Grenzen abgedichtet werden, um Flüchtlinge in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten eben dort verrecken oder afrikanische Migranten im Mittelmeer anonym ersaufen zu lassen. Und so hat die überparteiliche Diskussion um ein »modernes Einwanderungsgesetz« längst begonnen, und das bedeutet: So wenig Zuwanderung wie möglich, allenfalls im von der Wirtschaft zwingend benötigten Maße; »flexible Quoten« lautet der politisch korrekte Terminus. »Zwei Drittel der Bundesbürger haben das Gefühl, dass der Zustrom von Flüchtlingen in die Europäische Union unbeherrschbar ist«, greift eine sich liberal verstehende Tageszeitung Volkes Stimmung auf und verbiegt ein solches »Gefühl« zum Fakt: »Die Zuwanderung nach Europa ist außer Kontrolle.« Es gebe einen »geduldeten außergesetzlichen Zustand«, einen regelrechten »Öffnungsdruck«. »Der Druck von außen durch Zuwanderungsbegehren aller Art wird in eine interne Wanderungsanarchie übersetzt«, heiß es. Das Volk hat demzufolge kein rassistisches Ressentiment, sondern nur ein Gefühl, also fort mit der Moral: »Angesichts weiter wachsender Migrationsströme sind moralische Appelle und Verdächtigungen die falsche Antwort.« [22] Die rechte Antwort muss kaum mehr angedeutet werden.

Das alles erinnert fatal an die Wahlerfolge der Republikaner, an Rostock-Lichtenhagen, an die frühen Neunzigerjahre. Am Ende hatten die etablierten Parteien seinerzeit die »berechtigten Sorgen« des wahlvölkischen deutschen Durchschnittsrassisten ernst genommen und den überparteilichen »Asylkompromiss« geschlossen, mit dem das Asylrecht nicht nur massiv eingeschränkt, sondern faktisch sogar außer Kraft gesetzt wurde. Es brauchte nachgerade den Druck von Rechtsaußen und vom Straßenpöbel, um diese Gesetzgebung politisch einigermaßen zu begründen. Und heute? Auch ohne das »moderne Einwanderungsgesetz« sind seit dem Jahr 2000 weit mehr als 20.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunkenen. [23] Dagegen gibt es keinen »Aufstand der Anständigen«, dagegen demonstriert erst recht keine »Pegida«, im Gegenteil. Diese Verlogenheit bei den »anständigen« wie bei den »besorgten« Deutschen allein begründet schon, warum nicht Partei gegen die eine Seite genommen werden kann, während über die andere geschwiegen, ihre Elendigkeit kleingeredet oder ihr Treiben gar gerechtfertigt und unterstützt wird.

Überhaupt muss der ganz gewöhnliche Deutsche sich vor dem Islam kaum fürchten, egal ob er sich für die islamophile oder für die rassistische Option entscheidet, und was immer er auch behauptet: Er ist nicht Charlie. Die Terroristen haben ihn nicht gemeint, haben ihre Ziele vielmehr sehr genau gewählt: antiislamische Polemiker, mutige Aufklärer, radikale Kritiker. Und zwei Tage später: Juden.

Europe is gone

Die Opfer des Massakers im koscheren Lebensmittelgeschäft in Paris verschwanden gleich nach den Breaking News weitgehend wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung; der antisemitische Charakter des Terrors ist fast kein Thema. Dabei hat es der Täter, Amedy Coulibaly, während der Geiselnahme im Interview mit dem französischen Sender BFMTV doch selbst so deutlich gesagt. Auf die Frage, ob er das Geschäft aus einem bestimmten Grund ausgesucht habe, antwortete er: »Ja. Die Juden. Wegen der Unterdrückung, vor allem des Islamischen Staats, aber überall. Es ist für alle Gegenden, wo Muslime unterdrückt werden. Palästina gehört dazu.« [24]

Als die islamischen Verbände in Deutschland für den 13. Januar zur Gedenkkundgebung nach Berlin aufriefen, wurde unter dem Titel »Zusammen stehen! Gesicht zeigen!« der »Extremismus« exorziert und der Islam exkulpiert, wurde »gegen Hass und Gewalt« agitiert, ohne im Aufruf jene auch nur zu erwähnen, denen der Pariser Terror doch, neben den Blasphemikern, ganz ausdrücklich galt: die Juden. [25] Und so fand sich das gewünschte »breite Bündnis« zusammen, mitsamt dem Bundespräsidenten, den etablierten Parteien, den christlichen Kirchen. Es war so breit, dass nicht einmal Ableger der faschistischen »Grauen Wölfe« und der islamistischen Muslimbrüder ein Hindernis darstellten – Gruppierungen aus einem Milieu, das in seinem Hass auf den Westen im Allgemeinen und auf die Juden im Besonderen selbst terroristisch agiert. [26] Der Bundespräsident frohlockte unterdessen über all die »Freunde der Demokratie und der Freiheit«: »Das ist ein patriotisches ›Ja‹ zu dem Land, in dem wir gemeinsam leben – zu unserem Land!«, denn: »Wir alle sind Deutschland!« [27] Mit eben diesem Satz beendete auch Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, seine Rede. [28] So wächst zusammen, was zusammengehört.

Es war Abraham Lehrer vom Zentralrat der Juden in Deutschland – dem man eine Nische einräumte – vorbehalten, ausdrücklich auch derer zu gedenken, die ermordet wurden, weil sie Juden waren. Es war an ihm – ausgerechnet an ihm! –, explizit auf den Antisemitismus unter Muslimen zu verweisen, an Toulouse und Brüssel zu erinnern, an die judenfeindlichen Hassparolen bei den Anti-Israel-Demonstrationen im Sommer 2014. [29] Mit diesem Mindestmaß an Klarheit und Wahrheit stand er alleine da. So, wie die deutschen, wie wohl die europäischen Juden überhaupt, alleine dastehen, nicht erst seit den jüngsten Terrorattentaten.

Wenige Tage nach den Massakern von Paris ist das öffentliche Ansehen des Islam in Europa gerettet, ja, besser denn je. Insbesondere hierzulande gilt: „Das deutsche Volk mag den Islam“. [30] Europäische Juden fürchten sich unterdessen – und flüchten, zu Hunderten, zu Tausenden. Es ist wieder einmal Europa, das die existenzielle Notwendigkeit und bittere Wahrheit des Zionismus begründet. [31]

Am Israel chai!

Die wenigsten wohlfeilen Charlies kämen auf die Idee, nun auch »Je suis aussi Juif« zu bekunden, weil ihnen beim Gedanken an Juden zuallererst Palästina einfällt, weil sich hier zu solidarisieren eine zu offensichtliche Lüge wäre, die sie sich nicht einmal selbst glauben könnten. Nur die ganz Abgebrühten der islamischen und freiheitlich-demokratischen Öffentlichkeitsarbeiter, wie Aiman Mazyek, erlauben sich das, ganz floskelhaft und am Rande, quasi als pflichtschuldige Geste, um ein »Wir« zu behaupten, aus dem sich aber immer mehr Juden in ihrem Kummer und in ihrer Angst längst ausgeschlossen fühlen.

Die Juden werden im Terror des Islam, der längst auch in Europa mordet, im Stich gelassen. Gerade darum, wie hilflos oder pathetisch die Geste auch daherkommen mag, würde ich gern trotzig sagen: »Je suis Juif!« Aber das stimmt nicht, ich bin kein Jude. Und in diesen widerwärtigen Zeiten ist das ein widerwärtiges Glück.


[1] www.sueddeutsche.de/kultur/houellebecqs-neuer-roman-das-abendland-ist-nicht-zu-retten-1.2292077

[2] www.sueddeutsche.de/politik/jahre-fatwa-gegen-rushdie-der-feind-und-seinesgleichen-1.491960

[3] www.bild.de/news/standards/kai-diekmann/der-preis-der-freiheit-39239260.bild.html

[4] www.taz.de/Kommentar-Je-suis-Charlie-Hebdo/!152463/

[5] u.a. hier: http://www.neues-deutschland.de/artikel/239311.eskalation-der-angespannten-lage-als-ziel.html?sstr=mazyek und hier: http://www1.islamische-zeitung.de/a?id=13728&add_comment=on

[6] um einmal Hans-Christian Ströbele aus einem anderem aber gar nicht so fernen Zusammenhang zu paraphrasieren: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13487842.html

[7] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150113-Mahnwache.html

[8] www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/536896/fdp-ruft-zur-streichung-des-blasphemieparagrafen-auf

[9] www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/536986/bosbach-weist-fdp-vorschlag-zuruck

[10] www.fr-online.de/politik/csu-und-blasphemie-haertere-strafen-fuer-blasphemie-gefordert,1472596,29553086.html

[11] www.deutschlandfunk.de/reaktionen-auf-anschlag-das-war-selbstjustiz.694.de.html?dram%3Aarticle_id=308207

[12] www.sueddeutsche.de/politik/deutsche-muslime-und-der-anschlag-auf-charlie-hebdo-wir-haben-uns-sehr-stark-gefuehlt-bis-mittwoch-1.2297369

[13] Statements von Thomas Oppermann und Heiko Maaß vom 8. Januar 2014 im TV-Sender Phoenix

[14] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150109-Pressestatement-Frankreich.html

[15] www.spiegel.de/politik/deutschland/sigmar-gabriel-ruft-zur-demo-gegen-terror-auf-a-1012024.html

[16] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/pegida-kampfbegriffe-was-verbirgt-sich-hinter-der-rhetorik-a-1011755.html

[17] http://www.redaktion-bahamas.org/aktuell/20150103pegida.html

[18] http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/wann_ist_es_soweit

[19] http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article135586551/Das-deutsche-Festival-des-Wahnsinns.html

[20] Exemplarisch hier http://www.spiegel.de/politik/deutschland/klausur-in-wildbad-kreuth-csu-in-der-pegida-falle-a-1011527.html und hier www.faz.net/aktuell/politik/pegida-170-000-unterschriften-gegen-islamfeindliche-bewegung-13343927.html

[21] http://d1.stern.de/bilder/stern_5/politik/2015/KW2/Sachsen-bleibt-Deutsch_fitwidth_489.jpg

[22] www.welt.de/debatte/kommentare/article136090222/Die-Zuwanderung-nach-Europa-ist-ausser-Kontrolle.html

[23] www.proasyl.de/de/news/detail/news/neue_schaetzung_mindestens_23000_tote_fluechtlinge_seit_dem_jahr_2000/

[24] www.tagesspiegel.de/politik/terrorist-amedy-coulibaly-im-tv-sie-charlie-hebdo-ich-die-polizisten/11211416.html

[25] islam.de/24522

[26] www.welt.de/politik/deutschland/article136336192/Das-ist-wie-eine-Demo-mit-Pegida-gegen-Nazis.html

[27] www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150113-Mahnwache.html

[28] www.dw.de/gauck-und-mazyek-wir-alle-sind-deutschland/a-18188380

[29] www.zentralratdjuden.de/de/article/5118.rede-des-vizepr%C3%A4sidenten-des-zentralrats-der-juden-in-deutschland-abraham-lehrer-bei-der-kundgebung-zusammenstehen-gesicht-zeigen.html

[30] www.spiegel.de/politik/deutschland/islam-82-prozent-der-deutschen-haben-kein-unbehagen-a-1012904.html

[31] www.commentarymagazine.com/article/the-existential-necessity-of-zionism-after-paris-a-commentary-editorial/

Die Selbstkritik der Nichtschuldigen

Aus einem Brief von Franz Neumann an Helge Pross von 1954:

Wie ich auf all das kam – weil ich mir zum hundertsten Male die Frage nach der Eigenart Deutschlands vorlege, warum ich dieses Land so liebe und doch so verabscheue … Vielleicht ist es ein Schuldgefühl, das ganz tief sitzt: Wie oft habe ich mir nach 1933 die Frage vorgelegt, wo meine Verantwortlichkeit für den Nationalsozialismus eigentlich steckt. Denn ich glaube an kollektive Schuld – aber dann kann ich mich ja davon nicht ausnehmen … Wir, die wir in der Opposition zu der Reaktion standen, waren alle zu feige. Wir haben alle kompromittiert. Ich habe ja mit eigenen Augen gesehen, wie verlogen die SPD in den Monaten Juli 1932 bis Mai 1933 war (und nicht nur damals) und habe nichts gesagt. Wie feige die Gewerkschaftsbosse waren – und ich habe ihnen weiter gedient. Wie verlogen die Intellektuellen waren – und ich habe geschwiegen. Natürlich kann ich das rational rechtfertigen mit der Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus, aber im Grunde war Angst vor der Isolierung dabei. Dabei hatte ich große Beispiele: Karl Kraus, Kurt Tucholsky. Und ich habe immer in der Theorie den sokratischen Standpunkt für richtig gehalten, daß der wahre Intellektuelle immer und gegenüber jedem politischen System ein Metöke, ein Fremder sein muß. So habe ich also mitgemacht bei dem Ausverkauf der Ideen der sogenannten deutschen Linken. Sicherlich ist mein Beitrag gering und der Politiker wird meine Haltung ironisch betrachten. Aber kann man den Verfall der SPD und den Aufstieg der Nationalsozialisten nur als politisches Problem betrachten? Waren da nicht moralische Entscheidungen zu treffen? Die habe ich zu spät und immer noch nicht radikal genug getroffen.

Zitiert nach Helge Pross: Einleitung. In: Franz Neumann: Demokratischer Staat und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie. Herausgegeben von Herbert Marcuse. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1986, S. 12

In eben dieser Einleitung schreibt Helge Pross:

Ausgerechnet der Mann, der in keinem Augenblick bereit war, mit den Feinden der Verfassung zu paktieren, hat sich immer wieder Vorwürfe gemacht…

und Pross zitiert diese Sätze aus Neumanns Brief,

…weil sie die inneren Schwierigkeiten der damaligen Gegner des Nationalsozialismus beleuchten und weil es kaum einen größeren Gegensatz zu den Selbstrechtfertigungen der Schuldigen gibt als die Selbstkritik der Nichtschuldigen.